Ob ACTA, WikiLeaks, Anonymous, arabischer Frühling, ePetitionen oder PRISM: Das Internet tritt zunehmend in den Fokus internationaler Politik, als Form politischer Partizipation, als Medium des Protests oder als Mittel zur Überwachung. Was sind die Folgen dieser Entwicklung? Wo liegen die Gefahren, wo die Chancen? Das haben Janusz Biene und Tim Rühlig den Politikwissenschaftler Thorsten Thiel gefragt.
Thorsten forscht an der Schnittstelle von Internationalen Beziehungen und Politischer Theorie und beschäftigt sich seit einiger Zeit mit Oppositions- und Protestbewegungen, online wie offline. Außerdem ist er aktiver Blogger und hat eines der bekanntesten, deutschsprachigen, politikwissenschaftlichen Blogs mitbegründet, das Theorieblog.
Janusz Biene/Tim Rühlig: Eines Deiner Forschungsthemen ist die Digitalisierung internationaler Politik. Was interessiert dich daran?
Thorsten Thiel: Politik lässt sich nicht unabhängig von Kontextbedingungen denken. Zwei solcher sich gegenwärtig stark verändernder Kontextbedingungen sind „Internationalisierung“ und „Digitalisierung“. Mich interessiert, wie diese beiden Faktoren die Praxis von Politik und unser Verständnis von ihr verändern – empirisch wie normativ.
Ein Beispiel: Wenn es stimmt, dass durch Digitalisierung eine andere Form von Partizipation an transnationaler Politik möglich wird, so steht zu erwarten, dass dies Auswirkungen auf die Legitimierungspraxen transnationaler Politik hat. So frage ich mich beispielsweise, wie internationale Organisationen auf diese Entwicklung reagieren. Natürlich ist Digitalisierung nicht der einzige Faktor, der die Öffnung internationaler Politik bewirkt, aber es ist eine Schnittstelle, an der sich nach meinem Eindruck die Untersuchung lohnt. Die Digitalisierung von Politik schafft Rückkopplungskanäle. Internationale Organisationen können sich nicht nur online präsentieren, sie kommen auch mit Kritikern in Kontakt. Obgleich internationale Organisationen eigentlich noch immer recht unabhängig von transnationaler, öffentlicher Meinung sind, sind sie zunehmend dazu übergegangen, sich zu dieser zu verhalten. Empirisch interessiert mich, wie weit dies reicht und wie es sich vollzieht; normativ, ob es in der Auseinandersetzung zwischen der Organisation und ihren Kritikern zu einem echten Diskurs kommt.
Man muss skeptisch sein, wir befinden uns definitiv noch in einem sehr frühen Stadium der Entwicklung. Viele der Experimente scheitern. Insbesondere „Top-down“-Experimente werden wenig angenommen. Sie unterliegen oft einer naiven Vorstellung der Demokratisierung von Politik durch das folgenlose Anbieten von Kommunikation und werden daher zurecht als Feigenblatt elitärer Institutionen kritisiert.

Thorsten Thiel plädiert für eine „stärker transnationale und zivilgesellschaftliche Formierung des Netzes“.
Also ist an dieser Front nichts gut im Internet?
Doch, es gibt auch Initiativen, die sinnvoller sind und besser laufen. So hat es in Bezug auf die Transparenz internationaler Organisationen, viele Initiativen gegeben, die helfen können, die öffentliche Diskussion zu verbessern. Während solche kleinen Schritte zu ‚open government‘ für sich zwar oft nicht ausreichen, besteht daher Hoffnung, dass es zu einer kontinuierlichen Ausweitung von Anhörungsrechten kommt – man also von Information zu Partizipation schreiten kann.
Wichtiger aber als solche „top-down“-Bemühungen scheinen mir die schon angeschnittenen „bottom up“-Prozesse zu sein. Diese werden durch Digitalisierung erleichtert, manchmal vielleicht gar erst ermöglicht. Die Kosten für wirkungsvolle politische Aktion und das Schaffen von Öffentlichkeit sinken. Eine Folge ist, dass die Massenmedien nicht mehr die „Gatekeeper“-Funktion ausüben, die sie einmal innehatten.
In Bezug auf Protestbewegungen kann man fragen, wie weit die Transnationalisierung von Protest mit der zunehmenden Digitalisierung von Kommunikation zusammenhängt. Protest zu organisieren, ist viel einfacher geworden. Das heißt natürlich nicht, dass die organisierte Zivilgesellschaft keine Rolle mehr spielt, wohl aber, dass schon kleinere Gruppen in der Lage sind, Initiativen zu entwickeln.
Nach meiner Auffassung wird in der Forschung aber viel zu sehr eine starre Unterscheidung zwischen online und offline zu ziehen versucht. Die These der ‚zwei Welten‘ ist ein alter und hinreichend widerlegter Topos, doch in der politikwissenschaftlichen Diskussion wird sie wieder und wieder hervorgeholt, um entweder das radikal neue Potential modernen Protestes zu feiern oder den online-Protest als „slacktivism“ abzuwerten. Beides wird der Komplexität sozialen Protests und der Debatte um Entstehungsbedingungen von Kritik nicht gerecht.
Wie wird Online-Protest wirkmächtig?
Reinen Onlineprotest kann man natürlich relativ leicht ignorieren. Die schlichte Anzahl von „Likes“ spielt selten eine Rolle, bzw. nur dann, wenn sie selbst Gegenstand oder Ursache von Berichterstattung wird. Aber dennoch hat eine solche Form der Zustimmung natürlich Effekte. So steigt beispielsweise die Motivation, eine Angelegenheit mit Nachdruck zu verfolgen und es entsteht ein Forum, wo Taktiken besprochen und Erfahrungen ausgetauscht werden können.
Ganz allgemein aber gilt, dass Cyberutopismus wie Cyberapokalypse unzureichende Positionen sind. Jeglicher Technikdeterminismus ist fehl am Platz, auch wenn Technik selbstverständlich nicht neutral ist. Die Kontextbedingungen verändern sich und wissenschaftliche Forschung muss zeigen, wie sich dies auf die soziale und politische Ordnung auswirkt, inwiefern wir zum Verstehen dieser Phänomene neue Theorie brauchen oder alte modifizieren müssen und was für normative Bewertungsmaßstäbe angebracht sind, um über Entwicklungen gehaltvoll diskutieren zu können.
Glaubst Du , dass man in Verbindung mit Digitalisierung einen Aufschwung von Protestkulturen beobachten kann?
Hier würde ich eine Differenzierung der Frage vorschlagen: Zum einen müssen wir wissen, ob wir derzeit eine verstärkte Politisierung beobachten können und zweitens, inwieweit die Möglichkeit digitaler Kommunikation ein verstärkender Faktor ist. Beides ist unglaublich schwierig zu beantworten. Auf jeden Fall sehe ich es nicht mehr so, dass die moderne Massendemokratie sich notwendigerweise entpolitisiert. Auch ist die Position falsch, dass durch das Internet, pauschal Vereinzelung und digitales Nomadentum forciert wird.
Wenden wir uns den Schattenseiten des Internets in der (inter-) nationalen Politik und kommen auf die jüngsten Überwachungsskandale zu sprechen. Was ist Deiner Meinung nach das Problem an staatlicher Überwachung des Internets? Schließlich wird immer wieder argumentiert, es garantiere unsere Sicherheit…
Die Dichotomisierung von Sicherheit und Freiheit finde ich eigentlich ziemlich langweilig, da würde ich immer betonen, dass es sich notwendig um ein Abwägungsproblem handelt. Und im Moment sind die Verhältnisse einfach grotesk überzogen. Spannender scheint mir beispielweise die Frage zu sein,inwiefern man die Sammlung und die Auswertung von Daten unterschiedlich bewerten muss und ob wir institutionelle Wege finden, die entstehende Datenflut nicht zu einer Gefahr für Grund- und Freiheitsrechte zu machen.
So ist es eine fürfür die Politikwissenschaft ungemein produktive Frage, ob es durch solch massive Datenspeicherung wie im Fall von PRISM und Tempora zu einer Veränderung des Verhältnisses zwischen Staat und Bürger kommt. Hier liegt eine große und noch kaum verstandene demokratietheoretische Herausforderung. Es wird immer schwieriger, als Bürger den Staat zu kontrollieren – mal ganz abgesehen von dem Problem, dass dieser uns immer besser kontrollieren kann.

Es sind die Zwangsmittel, über die der Staat verfügt, die seine Datensammlungen problematisch machen, meint Thorsten Thiel.
Sprich: Es sind also die Zwangsmittel des Staates, die das Ganze problematisch machen?
Ja, Macht und Gewalt spielen immer eine Rolle, wenn es um Politik geht, so auch im Digitalen. Eigentlich schien der Staat den Moment verpasst zu haben, dem Internet seine Logik aufzudrücken. Doch wir haben in den letzten Jahren parallel zur Kommerzialisierung des Netzes einen Aufstieg von Versicherheitlichung beobachten können, der so irritierend wie rasant ist. Je mehr wir die Behauptung akzeptieren, dass das Internet ein gefahrvoller Raum ist, der der souveränen Ordnung bedarf, desto dringender werden wir Wege finden müssen, der sich akkumulierenden Macht der Ordnungsgewalt zu begegnen. Das Freiheitsversprechen der Netztechnologie, wie naiv diese Vorstellung auch immer war, droht ansonsten völlig die Grundlage zu verlieren. Daher ist es wichtig, dass die netzpolitischen Gegenkräfte sich bald wieder sammeln und die öffentliche Debatte nicht auf den momentanen Sturm der Entrüstung beschränkt bleibt.
Was können wir gegen unsere Überwachung tun?
Es gibt mehrere Gegenstrategien: Es heißt erstens, dass man sich auf individueller Ebene wappnen müsse, das heißt beispielweise mehr verschlüsseln solle. Das ist richtig, aber ich habe das starke Gefühl, dass dies nicht reichen und eine privelligerte Strategie der digitalen Boheme bleiben wird. Dann gibt es natürlich eine im öffentlichen Diskurs starke Position, die besagt, dass zunächst die Kontrolle des Netzes verbessert und dann die Kontrollinstitutionen stärker überwacht werden sollten. Ich halte diese Re-Demokratisierung, die meist mit einer Zentralisierung einher gedacht wird, für naiv. Der PRISM-Skandal zeigt, dass staatliche Datengelüste groß sind und dies ist nicht nur ein amerikanisches Problem. Hier sehe ich zudem die Gefahr einer Art Wettrüsten staatlicher Kontrollkompetenzen und vermute, dass die Überwachung der Überwachung immer schwierig bleiben wird. Bleibt eine dritte Strategie: eine stärker transnationale und zivilgesellschaftliche Formierung des Netzes. Dies war der Weg auf dem das Internet zu sein schien, bevor durch dessen Kommerzialisierung und die Projektion staatlicher Souveränität in die digitale Welt der Trend umgekehrt wurde. Ob man zu einem solchen Modell faktisch zurückkehren kann, wage ich zu bezweifeln – normativ aber scheint es mir eine verheißungsvolle Alternative zu sein.
Vielen Dank für das Gespräch!
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