IB Online (2/6): eine kleine Türkei-Spezial-Netzschau

Sie bestimmt die Nachrichten, ihr habt sie alle schon gesehen. Aber wir haben Links, die euch vielleicht neu sind: Die Protestwelle in der Türkei ist DAS Thema der Netzschau dieser Woche.

Nicht nur über die Straßen und Plätze Istanbuls, auch über die anderer Metropolen der Türkei rollen nun schon seit über einer Woche gewaltige Protestwellen. Trotz oder gerade aufgrund massiver, gewaltsamer Repression der Polizeikräfte und der Versuche der De-Legitimierung des demokratisch gewählten und angesichts bevorstehender Kommunalwahlen zuversichtlichen Ministerpräsidenten Erdogan scheint der Widerstand gegen eine als autokratische Herrschaft empfundene Politik seiner Regierung bisher nicht abzuebben.

Über den Fortgang der Proteste informiert ein Live-Blog von Al Jazeera. Die letzte Meldung, die ich während des Schreibens dieser Netzschau lese, berichtet von Solidaritätsprotesten in Berlin Kreuzberg. In den vergangenen Tagen gab es derlei Aktionen u.a. auch in Düsseldorf und Hamburg.

Beeindruckende Beschreibungen der Ereignisse aus Sicht von TeilnehmerInnen der Demonstrationen finden sich in dem lesenswerten Blog Insanlik Hali. Der Beitrag „Resist Istanbul – a personal story“ schildert eindrücklich, wie ein einst apolitischer junger Akademiker vom Widerstand gepackt wurde. Den Beginn und die Eskalation zeigt das unten eingebundene Video auf Vimeo in fesselnden Bilder. Weitere Bilder der Polizeigewalt werden unter anderem auf den Tumbler Delilim Var hochgeladen.

Gördüm – Bir Gezi Parkı Direnişi Belgesel Filmi / Documentary Film

Einen neuen Schub bekamen die Proteste am Wochenende durch die Teilnahme einer – zumindest aus der Entfernung – überraschenden Allianz zwischen in sportlichen Dingen als verfeindet geltenden Fans der drei Istanbuler Fußballclubs Galatasaray, Fenerbahce und Besiktas. Bilder im Blog Turkey Wonk, auf Facebook und in Videoberichten (vor allem ab 1:30) lassen die Wirkung der Protest- und kampferprobten Fußballfans erahnen.

992972_530875050281240_1663674967_n

Über die aktuellen Meldungen hinaus, lohnt sich auch ein Blick zurück. Einen umfassenden Rückblick auf die politische Geschichte der Türkei seit den 1950er Jahren findet sich auf den Seiten der London Review of Books. Und zwei etwas Kürzere Beiträge über die jüngere Vergangenheit und die Frage nach den Ursachen der Bewegung im Monkey Cage sowie dem Stand der türkischen Demokratie beim Dart-Throwing Chimp. Einen Blick der Bewegung Müştereklerimiz, die Occupy Gezi initial mitgestaltet hat, auf die letzten zehn Tage des Protests lässt sich auf Open Democracy nachlesen.

Müştereklerimiz erinnert darin daran, dass das Ausmaß der Proteste seit der Repression von „Occupy Gezi“ (hier ein gleichnamiger Tumblr sowie hier ein Twitter-Account) am 31. Mai zwar unerwartet, die Protestwelle aber nicht unvorhersehbar, sondern vorläufiger Endpunkt eines steten Eskalationsprozesses war. So berichtet der New Yorker von vorhergehenden Protesten gegen eine umstrittene Namensgebung einer neuen Bosporus-Brücke, den Streik von tausenden Mitarbeitern der Fluglinie Turkish Airlines sowie die Verabschiedung eines Gesetzes zum Verbot von Alkohol. Desweiteren kam es im Vorfeld von „Occupy Gezi“ zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen der Polizei und Gewerkschaften und anderen Teilnehmern einer Demonstration am 1. Mai (Video hier). Diese Fälle deuten daraufhin, dass die Protestierenden des Taksim-Platzes, in Ankara und anderswo eine heterogene Masse – teils erfahrener, teils unerfahrener Demonstranten – sehr unterschiedlicher Klassen, Altersklassen und Interessen bilden (als Beispiel ein Beitrag in Theory and Praxis 2.0 zur Rolle der Arbeiterklasse; siehe auch der Artikel „Turkey’s Class Struggle“ auf Project Syndicate). Nach Seyla Belhabib geht es auch um die Frage von Säkularismus und Religion. Klar ist, sie eint der Widerstand gegen eine als autoritär wahrgenommene Politik und (so zumindest Orhan Pamuk für die Demonstranten in Istanbul) ihre Erinnerung an die Geschichte des Taksim-Platzes.

Wie es in der Türkei weitergeht bleibt abzuwarten. Angesichts der Unnachgiebigkeit von Erdogan (The Economist), den leichten Absatzbewegungen von Präsident Gül (Foreign Affairs) und der Standfestigkeit der Demonstranten sieht es vorerst nach weiteren, womöglich eskalierenden Machtkämpfen aus.

Wer kennt noch andere, lesens- oder sehenswerte Weblogs zum Thema „Proteste in der Türkei“? Ich freue mich über Links in den Kommentaren.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..