Was zählt ist was hinten bei raus kommt – Framing, Grafting und die Prävention schwerster Gräueltaten

In der konstruktivistischen Normentheorie kommt man nicht umher sich mit Praktiken wie Framing und Grafting zu beschäftigen, wenn man die Entstehung einer Norm untersucht. Die Norm der internationalen Schutzverantwortung zeigt, dass auch eine bereits anerkannte Norm immer noch umstritten sein kann. Diplomaten und Aktivisten greifen daher weiterhin auf Framing und Grafting zurück, um Skeptiker von ihrem Normverständnis zu überzeugen. Wie das aussieht möchte ich anhand von Aussagen einiger meiner Interviewpartner für ein Projekt über die Entwicklung humanitärer Schutznormen illustrieren.

Hier kann man Framing und Grafting (auch) beobachten: UN-Konferenzraum während der Pause des R2P-Dialogs der Generalversammlung 2014, New York. Quelle: Gregor Hofmann

Hier könnte man Framing und Grafting (auch) beobachten, wenn jemand da wäre: UN-Konferenzraum während der Pause des R2P-Dialogs der Generalversammlung 2014, New York. Quelle: Gregor Hofmann

Um was geht es hier eigentlich?

Wir interpretieren ständig alles was um uns herum geschieht. Also auch Vorschläge für neue Normen die unsere soziale Welt regulieren sollen. Framing und Grafting können in diesem Zusammenhang als Argumentations-Strategien verstanden werden. Akteure nutzen sie, um ihrer Interpretation der sozialen Wirklichkeit Gehör zu verschaffen und andere davon zu überzeugen. Die existierende normative Ordnung soll verändert werden. Man spricht auch von Normunternehmern. Auf internationaler Ebene sind das meist transnationale Netzwerke von Aktivisten, Nichtregierungsorganisationen oder engagierte Staaten, die eine neue Idee als Norm auf internationaler Ebene etablieren wollen. Sie versuchen auf bestimmte Themen aufmerksam zu machen oder „schaffen“ neue Themen mit Hilfe von Kampagnen.

Der Versuch einen Sachverhalt in einen bestimmten thematischen Rahmen einzuordnen und ihm politische Relevanz zu verschaffen wird als Framing bezeichnet. Grafting ist eine verwandte Praktik. Hier wird versucht eine Idee oder neue Norm an bestehende und bereits anerkannte Normen anzuknüpfen, um so aufzuzeigen: Hey, das ist nichts wirklich Neues, sondern in diesem Sachbereich notwendig und im Einklang mit existierenden Regeln und Konzepten! So soll die Debatte in die „richtige“ Richtung gestoßen werden. Gegner einer Regelung sollen an den Rand gedrängt und unter Rechtfertigungsdruck gesetzt werden. Doch auch Akteure die solchen Ideen kritisch gegenüber stehen greifen auf diese Strategien zurück, um Unterstützer für ihre Position zu gewinnen.

In der Literatur wurde lange kolportiert, dass dieser Wettkampf um die Deutungshoheit endet, wenn eine kritische Menge an Staaten der neuen Norm zugestimmt hat und der gute alte Wendepunkt (tipping point) erreicht ist. Das ist allerding nur teilweise richtig: Zwar kann eine Norm als (zumindest temporär) etabliert angesehen werden, die Auseinandersetzung über ihre Bedeutung muss damit aber noch lange nicht beendet sein.

Umstrittenheit trotz Normanerkennung macht Kreativität erforderlich

Die Responsibility to Protect (R2P) und der Kampf gegen schwere Gräueltaten sind hierfür ein gutes Beispiel. Die Norm der Responsibility to Protect, oder auch der internationalen Schutzverantwortung, wurde 2005 einstimmig von der UN Generalversammlung anerkannt. Der „Wendepunkt“ scheint also erreicht: Die Grundidee hinter R2P – die Verhinderung von Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, ethnischen Säuberungen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit – findet breite Anerkennung in der Staatengemeinschaft. Das zeigen die informellen interaktiven Dialoge der Generalversammlung zum Thema. Die Verinnerlichung der Norm durch Staaten und ihre Entscheidungsträger müsste also voranschreiten.

Doch Skepsis und Widerstand sind nach wie vor vorhanden: R2P und verwandte Konzepte sind nun mal in großen Teilen der Debatte über humanitäre Interventionen in den 1990er Jahren entsprungen. Viele assoziieren daher mit R2P nicht die Idee der Prävention von Gräueltaten. Sie sehen vielmehr die Gefahr militärischer Interventionen bis hin zum von außen herbeigeführten Regimechange. Die Libyen-Intervention der NATO 2011 hat nicht unerheblich dazu beigetragen diese Vorurteile zu bestärken. Viele Kritiker interpretieren daher R2P als Hintertür für einen Interventionismus der Großmächte.

Dies führt dazu, dass sich der UN-Generalsekretär in seinen Berichten zur Umsetzung der R2P in den letzten Jahren auf Prävention unter dem Dach der R2P konzentriert. Initiativen, die auf eine nationale oder regionale Verankerung der präventiven Säule von R2P abzielen, stoßen aber weiterhin oft auf Vorurteile von Regierungen. Befürworter greifen daher weiterhin auf Framing- und Grafting-Strategien zurück, um die Norm in der Praxis umzusetzen.

Grafting und die Agenda der Gräueltatenprävention

Ein Beispiel ist die R2P Focal Point Initiative von Dänemark, Ghana, Costa Rica und Australien: Staaten sollen einen zentralen Ansprechpartner für R2P und Gräueltatenprävention einrichten. So soll dem Thema in der nationalen Administration Aufmerksamkeit verschafft und zudem ein internationales Netzwerk aufgebaut werden. Das Netzwerk besteht inzwischen aus 43 Staaten, findet aber in letzter Zeit nur wenige neue Mitglieder.

Viele Staaten, vor allem in Lateinamerika und Südostasien, stehen R2P nämlich kritisch gegenüber. Beide Regionen haben eine lange Geschichte verschiedener Interventionen durch Großmächte und stehen daher jeder potentiellen Hintertür für externe Einmischung hoch kritisch gegenüber. Ein Diplomat aus Südamerika sagte mir, sein Land Unterstütze die Idee von R2P und sehe auch die Notwendigkeit Zivilisten in Kriegen zu schützen, aber der dominante Rahmen für R2P ist bei ihm ein anderer: “when it comes to R2P, you must not forget its origins. It comes from the idea of a droit d’ingerence. It does have problematic aspects. Hence, it is an idea you cannot buy wholesale without qualification. […] this is an idea that is to be implemented predominantly in the developing world but not in the US, Israel, or France. Almost unconsciously but manifestly people are talking about the Protection of Civilians in weak and poor countries. From an historical point of view this is unfair. If you look at the Holocaust and other large scale cases of atrocities: The most shocking crimes were committed by developed countries. In a way, the idea of R2P is used to whitewash the guilt of the powerful states, without them acknowledging this guilt” (vom Author paraphrasiert).

Mit Grafting-Strategien versuchen Normunternehmern solche Vorbehalte zu umgehen: In Lateinamerika wird weniger von R2P als von Genozid- und Gräueltatenprävention gesprochen. Ein Beispiel ist das Latin American Network for Genocide and Mass Atrocity Prevention, das versucht anzuknüpfen an bereits bestehende regionale Praktiken, insbesondere im Bereich des Menschenrechtsschutzes. Viele Politiker in Lateinamerika haben ihre politische Karriere im Kampf gegen die dortigen Militärdiktaturen begonnen. Letztere konnten sich oft erst mit Hilfe offener und verdeckter äußerer Unterstützung etablieren. Ein Verweis auf die Verhinderung schwerster Menschenrechtsverletzungen hat mehr Erfolgsaussichten, als ein Verweis auf R2P, so eine Diplomatin: “Comparing the R2P Focal Point Initiative with the Genocide Prevention Network: the first thing you can see of course is that the one uses the label of R2P and the other one doesn’t. That will mean that for some countries in the region it will be much easier to join the Genocide Prevention Initiative than the R2P initiative. Because R2P is a label that can be helpful for certain things but also brings some other problems”.

Einen ähnlichen Weg geht die Initiative Global Action against Mass Atrocity Crimes (GAAMAC) die von der Schweiz, Tanzania, Costa Rica, Dänemark, Australien, Argentinien und Ghana vorangebracht wird. GAAMAC konzentriert sich vor allem auf Prävention und Early Warning und versucht eine Brücke zu schlagen zwischen Genozidprävention und R2P.

In Südostasien wird die Debatte dagegen anders gegrafted: Viele Staaten dort sehen sich heute in ihrem Entwicklungsweg bestätigt, der zunächst wirtschaftliche Entwicklung unter (militärischem) Autoritarismus priorisiert hatte, während Demokratie und Menschenrechtsschutz lange untergeordnet waren. Gutes Beispiel hierfür ist die Grunddoktrin von ASEAN sich nicht ungefragt in die inneren Angelegenheiten der Mitgliedstaaten einzumischen. Ein jüngst erschienener Bericht zur möglichen Verankerung von R2P in der im nächsten Jahr entstehenden ASEAN Community rahmt daher den Begriff der R2P in nahezu jedem Absatz als einen Beitrag zur Stärkung nationaler Souveränität – um an existierende regionale Grundnormen anzuknüpfen. Ob dieser Versuch erfolgreich sein wird, ist derzeit noch offen.

Framing im Sicherheitsrat: Reden wir gerade über R2P?

Auch im Sicherheitsrat lassen sich Framing- und Grafting Strategien beobachten, um Konsens für Resolutionen herzustellen. Die Konzepte R2P und Protection of Civilians in Armed Conflict (PoC) überschneiden sich stark, sind aber nicht identisch. PoC legt das Augenmerk auf die Einhaltung des humanitären Völkerrechts, insbesondere der Genfer Konventionen und beinhaltet ein breiteres Verständnis von Schutz als R2P. Doch die Sprache ähnelt sich oft: “It is a tactic of R2P advocates to overstate the Security Council Resolution’s language on R2P, to show that R2P matters. There is no unanimity in the Council on whether certain language is about R2P or not. The Council hasn’t talked about R2P for a long time. What some states see as PoC- or IHL-language do other states interpret as references to R2P. Hence, when states negotiate over SC-Resolutions, there is no consensus whether or not they are talking about R2P” (vom Author paraphrasiert).

Ziel dieses Framings der Debatte als auf R2P bezogen ist es die Deutungshoheit über die konzeptuellen Aussagen von Sicherheitsratsresolutionen zu erlangen: “By collecting “R2P language” in Security Council Resolutions and Member states’ statements, [they] try to collect evidence for an existing opinio juris that R2P exists as a norm. This is important, since R2P is a young norm and there is always the danger that that what the member states’ governments say is just political theater” (vom Author paraphrasiert).
Der internationale Diskurs soll so in eine bestimmte Richtung geschubst werden.

Was sagt uns das nun?

Sprache spielt auf dem diplomatischen Parkett eine wichtigere Rolle als man denkt – deshalb sind Strategien wie Framing und Grafting von großer Bedeutung. Für die Gräueltatenprävention zählt das, was hinten bei raus kommt. Für jene die sich dem Thema verschrieben haben ist der Rückgriff auf Framing und Grafting der Beste Weg die Agenda voranzubringen und sich auf die Umsetzung und weniger auf begriffliche Diskussionen zu fokussieren.

Der Gedanke dahinter ist auch folgender: Zunächst soll die Norm über den präventiven Aspekt erst einmal verankert werden. Dann wird auch die Unterstützung für internationale Reaktionen auf Gräueltaten wachsen. Und vielleicht ist dann eine zunehmende Mehrheit der Staatengemeinschaft eher wieder bereit eine humanitäre Intervention auch ohne die Zustimmung der Regierung des betroffenen Staates zu akzeptieren.

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