Buch des Monats: Die verschwiegene Katastrophe beschreiben

Hunger beherrschte China während des "Großen Sprungs nach vorn" zwischen 1958-1962.

Hunger beherrschte China während des „Großen Sprungs nach vorn“ zwischen 1958-1962.

Yang Jisheng, langjähriger Journalist der staatlichen chinesischen Nachrichtenagentur, hat ein erschütterndes Buch über den „Großen Sprung nach vorn“ geschrieben. Millionen ChinesInnen verhungerten 1958-62. Bis heute wird darüber geschwiegen. Nicht so Yang, der mit seinem Buch ein nie da gewesenes Bild der Katastrophe zeichnet und den Toten gedenkend einen „Grabstein“ setzt.

Dieses Buch sollte ursprünglich den Titel tragen „Der Weg des Himmels“, später habe ich ihn geändert in „Der Grabstein“. Mit diesem Buch errichte ich einen Grabstein für meinen Vater, der 1959 an Hunger starb; für 36 Millionen Chinesen, die an Hunger starben; für das System, das ihren Tod verursachte, und vielleicht für mich selbst, da ich dieses Buch schreibe.

Ein Grabstein ist erstarrte Erinnerung. Die Erinnerung der Menschen ist die Treppe, die ein Staat und ein Volk braucht, um voranzukommen. Wir dürfen uns nicht nur an das Gute erinnern, wir müssen uns auch an die Verbrechen erinnern, wir dürfen uns nicht nur an das Licht erinnern, wir müssen auch an die Schatten denken. Die Machthaber in einem totalitären System verbergen das Schlimme und heben das Gute hervor, sie vertuschen die eigenen Fehler und wischen mit Gewalt die Erinnerung der Menschen an Unglück, Dunkelheit und Verbrechen weg. Deshalb litten Chinesen so oft an historischer Amnesie. Der Grabstein, den ich errichte, wird genau das Gegenteil tun, er lässt die Menschen Erinnerungen wachrufen an all das Unglück, damit man in Zukunft von eben diesem Unglück, den Schatten und den Verbrechen loskommen kann.

YangJisheng

Yang Jisheng, Autor des Grabsteins, 2010. Quelle: Wikipedia.

Der das schreibt ist Yang Jisheng auf Seite 11 seines 2012 auf Deutsch erschienen Buches „Grabstein“. Es ist gleichermaßen anrührend, beeindruckend, vor allem aber unendlich bedrückend dieses Buch zu lesen.

Gleich auf den ersten Seiten beschreibt Yang seine enge Bindung zu seinem (Zieh-)Vater, der während es „Großen Sprungs nach vorn“ verhungerte. Er selbst musste dies als Jugendlicher miterleben. Vorwürfe macht er sich bis heute, dass er nicht früher zum Vater fuhr. Denn als er wenige Tage vor dessen Tod im Elternhaus eintraf, konnte sein Vater, ermattet vom Hunger, nicht einmal mehr die Kraft zum Schlucken aufbringen.

Und doch blieb Yang Jisheng weiterhin vom Kommunismus Chinas überzeugt. Er hielt das, was seinem Vater zugestoßen war, für einen Einzelfall, zumindest für ein regionales Problem. Denn er war in einer sehr abgelegenen Gegend aufgewachsen.

Ab den frühen 1990er Jahren wandte er sich, mittlerweile desillusioniert, erneut dem „Großen Sprung nach vorn“ zu, recherchierte im ganzen Land. Mit seinem 2008 in Hongkong veröffentlichten und nun ins Deutsche übersetzten Buch „Grabstein“ präsentiert er in erschütternder Weise bis jetzt von den kommunistischen Machthabern versteckte Details dieser Jahrhundertkatastrophe.

Wie wenig über den „Großen Sprung nach vorn“ bekannt ist, verrät bereits die Tatsache, dass die Schätzungen, wie viele Menschen verhungerten, bis heute gravierend voneinander abweichen. Manche sprechen von 15 Mio. Menschen, andere von 45 Mio. Yang Jisheng geht von 36 Mio. aus.

Da bereits die grundlegendsten Fakten über die Katastrophe von 1958-1962 unbekannt sind, ist es fast von selbst erklärlich, dass auch die Toten bis heute keinen Platz in der öffentlichen Gedenkkultur Chinas einnehmen. Dem „Großen Sprung nach vorn“ wird bis heute und trotz aller Unterschiede zur Mao-Zeit und aller auch kritischen Diskussionen in China über die maoistische Vergangenheit der angemessene Platz in der öffentlichen Auseinandersetzung verweigert.

Stahlproduktion

Auch in der Nacht war die Landbevölkerung angehalten, die Stahlproduktion voranzutreiben.

Das Schweigen der Kommunistischen Partei hat dabei einen guten Grund. Denn der „Große Sprung nach vorn“ gehört nicht nur den größten Katastrophen des 20. Jh. weltweit, sondern er ist direktes Ergebnis politischer Entscheidungen: So entschied sich die kommunistische Führung nicht nur wenige Jahre nach der Privatisierung größerer Landflächen zur erneuten Zwangskollektivierung der Landwirtschaft, sondern forderte von der Landbevölkerung auch die Beteiligung an Infrastruktur- und vor allem Industrialisierungsprojekten. Aus beiden Entwicklungen resultierte eine deutliche Reduktion der landwirtschaftlichen Produktion von Grundnahrungsmitteln, die durch Dürren und Überschwemmungen zusätzliche Brisanz erhielten.

Gleichzeitig stelle die politische Führung um Mao Zedong utopische planwirtschaftliche Ziele auf. Die lokalen und regionalen Kader waren nicht bereit einzugestehen, dass die Ziele unerfüllt blieben und meldeten wesentlich höhere Erträge. Es war keine Seltenheit, dass die Zahlen eine dreimal höhere Produktion angaben, als es der Realität entsprach. Die Bauern wiederum mussten  alles an die zentralen Stellen des Staates abgeben, das den täglichen Gebrauch überstieg. Da die Menge der produzierten landwirtschaftlichen Produkte wesentlich geringer als gemeldet war, mussten auch die Bauern entsprechend viel abgeben und verhungerten millionenfach.

„Grabstein“ zeichnet diese Entwicklung in einer einzigartigen und beeindruckend detail- und materialreichen Art und Weise nach. Aufgrund der Tatsache, dass Yang als Xinhua-Mitarbeiter Zugang zu vielen Archiven hatte, ist das umfassendste Bild von der Jahrhundertkatastrophe entstanden, das es bislang gibt. Dabei war Yang völlig klar, welche Gefahr er mit seinem Buchprojekt lief.

Denn Yang kennt das politische System Chinas von innen heraus wie kaum ein Zweiter. Überzeugt von der kommunistischen Sache und der Partei genoss er eine Ausbildung ganz im Sinne der Staatsführung, war ein ausgesprochen angesehener Journalist der staatlichen Nachrichtenagentur Xinhua und verfasste als solcher nicht nur Propagandatexte, die in den Medien des Landes Verbreitung fanden, sondern auch geheime Berichte für die politische Führung. Solche Papiere gelangten bis auf die Schreibtische der Partei- und Staatsführung, darunter auch Mao Zedong und Zhou Enlai selbst.

Doch nachdem sein Glauben an die Kommunistische Partei Chinas bereits in Folge der Kulturrevolution erste Kratzer erhalten hatte, waren es letztlich die Ereignisse auf dem Platz des Himmlischen Friedens 1989, bei denen die Studentenrevolte für Freiheit und Demokratie blutig niedergeschlagen wurde, die Yang zum Umdenken brachten. Seither sammelte er im Verborgenen Informationen, führte Interviews und durchsuchte Archive. Er schrieb mehrere Bücher, darunter auch ein Interviewband mit Zhao Ziyang, dem ehemaligen Premierminister der Volksrepublik China, der aufgrund seines Votums, nicht gewaltsam gegen die Studenten vom Platz des Himmlischen Friedens vorzugehen, unter Hausarrest gestellt wurde. Unter dem Deckmantel, Recherchen über landwirtschaftliche Produktion anzustellen, sammelte Yang schließlich auch die Informationen über den „Großen Sprung nach vorn“.

„Grabstein“ ist in der Volksrepublik verboten. Aber Raubkopien kursieren im Internet und lösen heftige Diskussionen aus. In Hongkong ist das Buch allerdings im Buchhandel zu haben.

Derweil lebt Yang – soweit bekannt – unbehelligt Peking. Dies aber nicht, weil der chinesischen Führung egal wäre, was der Autor schreibt. Sie versucht das Thema totzuschweigen, keine Aufmerksamkeit zu erregen.

Der Grund für diese (Nicht-)Behandlung des Themas ist, dass Geschichtspolitik nach wie vor eine zentrale Stellung für die Legitimität und Stabilität der KP-Herrschaft hat. So zitiert McGregor in „Der rote Apparat“, das unser Buch des Monats März ist, den ehemaligen stellvertretenden Direktor der Zentralen Propagandaabteilung, Liu Zhongde, mit den Worten: „In China ist der Leiter der Zentralen Propagandaabteilung wie der Verteidigungsminister in den Vereinigten Staaten und der Landwirtschaftsminister in der ehemaligen Sowjetunion. Sein Führungsstil entscheidet mit darüber, ob die Stabilität der Nation aufrechterhalten werden kann.

Denn die Kommunistische Partei wird auch ganz wesentlich aufgrund ihrer historischen Errungenschaften für China unterstützt. Das ist ein Fakt, der in einem Land mit einem derart ausgeprägten Nationalstolz wie ihn China aufweist, kein unwesentlicher Aspekt politischer Legitimität. In diesem Sinne ist „Grabstein“ nicht nur ein erschütterndes, sondern auch ein ungemein mutiges Werk. Yang Jisheng gebührt daher nicht nur Dank, sondern auch größte Hochachtung.

Yang, Jisheng (2012): Grabstein – Múbei. Die große chinesische Hungerkatastrophe 1958 – 1962. Frankfurt am Main: Fischer-Verlag.

Lust auf weitere Artikel zum Thema China auf dem Bretterblog? Kein Problem. Hier gibt’s mehr.

Interesse an weiteren Rezensionen der Kategorie „Buch des Monats“? Hier eine Übersicht.

Hinterlasse einen Kommentar

Diese Seite verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden..