[Medium des Monats] Zvi und seine Mundharmonika

Kibbuz2„Erhobenen Hauptes. (Über)Leben im Kibbuz Ma’abarot“ heißt ein neuer Dokumentarfilm, in dem fünf beeindruckende Menschen mit einer Feinheit, Sensibilität und Mitmenschlichkeit portraitiert werden, die ihres Gleichen sucht – ein Meisterwerk.
Es ist ein unglaublich ergreifender Moment als Zvi Cohen auf seiner Mundharmonika das Soldatenlied „Ich hatt einen Kameraden…“ spielt. Neben mir raunt eine Frau ein unterdrücktes, tief-bewegtes „Nein“, ich bekomme Gänsehaut und mir schießen die Tränen in die Augen.  Denn Zvi erzählt im Dokumentarfilm „Erhobenen Hauptes. (Über)Leben im Kibbuz Ma’abarot“ wie er dieses Lied in Berlin spielte als zwei SS-Männer in die Wohnung kamen um ihn und seine Eltern abzuholen. Zvi war allein zu Hause, aber die SS hatte zunächst darauf bestanden, dass er mitkommen sollte. Gerade als er seine Mundharmonika einpacken wollte, fragte einer der beiden: „Was ist das?“ – „Eine kluge Frage“, kommentiert Zvi im Film ironisch und erzählt, wie er aufgefordert wurde, ein Lied zu spielen. Auch die SS war von Zvis Spiel gerührt. (Vermutlich aus etwas anderen Gründen als ich und all die anderen Zuschauer im Kinosaal des Deutschen Filmmuseums). So ließen sie sich weitere Stücke vorspielen bis seine Eltern kamen und alle drei zusammen ins Ghetto Theresienstadt verschleppt wurden. Dennoch ist Zvi überzeugt, dass ihm die Mundharmonika das Leben rettete, denn ohne seine Eltern hätte er den Holocaust nicht überlebt. Nur mit der Zeit, die er mit seinem Musizieren gewann, schafften es seine Eltern nach Hause bevor er allein deportiert worden wäre.

Zvi ist nur einer von fünf Einwohner_innen des Kibbuz Ma’abarot, (Kibbuzim – Plural von Kibbuz – sind Dörfer, die eingerichtet wurden um den Staat Israel aufzubauen. Es sind keine Siedlungen, über die heute politisch vielfach gestritten wird. Mehr zu den Arbeits- und Lebensweisen der Kibbuzim weiter unten im Artikel) das nördlich der israelischen Küstenstadt Netanya liegt, den die Kinobesucher_innen filmisch kennenlernen:
Da ist Ora Lahisch, die in Landau geboren wurde und nach mehrmaligem Umziehen als Vierzehnjährige nach Frankfurt kam. Dort erlebte sie nicht nur die Novemberpogrome, sondern auch die Deportation der polnischen Juden im Jahre 1938. So entschloss sich die Familie, Ora nach Palästina zu schicken. Ähnlich ging es Joav Burstein, der 1923 als Heinz („Heini“) in Berlin geboren wurde und Hannah Schalem. Hanni Aisler wiederum, die fünfte Protagonistin des Dokumentarfilms, erreichte Israel nach Ende des Krieges, den sie in Chile überlebte.
Während in Europa die Nationalsozialisten Millionen Juden ermordeten, lebten Ora, Joav und Hannah im Kibbuz Ma’abarot. Ihre Eltern hatten sie in Reaktion auf die sich abzeichnende Ermordung der Juden in Deutschland nach Palästina geschickt. Den Staat Israel gab es zwar noch nicht; er wurde erst 1948 gegründet. Doch bereits seit dem 19. Jahrhundert erhielt die zionistische Idee einen jüdischen Staat in Palästina zu gründen immer mehr Aufmerksamkeit. In immer neuen Einwanderungswellen kamen europäische Juden nach Palästina, meistens, weil sie sich Verfolgungen und Diskriminierungen ausgesetzt sahen. Sie machten eine Alija. Alija heißt auf Hebräisch Aufstieg und wird im Tanach bzw. in der Bibel verwendet, um die Rückkehr der Juden aus dem babylonischen Exil in das Gelobte Land zu bezeichnen.
Doch was sich heute so einfach beschreiben lässt, war mit großen Mühen und großem Leid verbunden: Denn obgleich Ora, Joav und Hannah in Palästina den Verbrechen der Nationalsozialisten entkommen waren, so verloren Ora und Hannah doch ihre Eltern – alle Protagonist_innen aber große Teile ihrer Familie – im Holocaust. Und obgleich der Zionismus lange vor der nationalsozialistischen Machtergreifung entstanden war, so erhielt der Impuls einen eigenen jüdischen Staat aufzubauen, eine völlig neue Bedeutung.
In dieser Verbindung zwischen den Grauen des Zweiten Weltkrieges und dem Aufbau Israels, als dessen Keimzelle die Kibbuzim gelten können, besteht das zentrale Thema der Dokumentation „Erhobenen Hauptes. (Über)Leben im Kibbuz Ma’abarot“. Während der Film mit Hintergrundinformationen spart, erhält das Kinopublikum einen tiefgehenden Eindruck von fünf Biographien, die alle für die Hoffnung auf einen eigenen Staat, in dem Juden nicht länger verfolgt und diskriminiert werden, leben. Juden sollten nicht länger in der Minder-, sondern in der Mehrheit sein. Endlich als normaler Teil einer Gesellschaft anerkannt werden, keine Furcht haben müssen – das war der Wunsch.
Doch die Kibbuzim lebten darüber hinaus die Vision eines wahrhaft egalitären Gemeinwesens. Denn viele Kibbuzim wurden nicht einfach als ein normales Dorf errichtet, sondern mit der Idee einer sozialistischen Gemeinschaft gegründet: Jedes Mitglied des Kibbuz erhielt den gleichen Lohn, alle aßen gemeinsam im Speisesaal, man verrichtete seine Arbeit für die Gemeinschaft, hatte so gut wie kein Eigentum, konnte aber viele Einrichtungen und Gegenstände des Kibbuz nutzen. Kinder wurden lange Zeit nicht bei ihren Eltern, sondern im Geiste des Kibbuz in einem Kinderhaus aufgezogen. Beschlüsse wurden in den Kibbuzim demokratisch und häufig nach langen Diskussionen gefasst. In Ma’abarot gibt es Mehrheitsentscheidungen, in vielen Kibbuzim (auch in dem, in dem ich eine Zeit lang selbst gelebt habe) gibt es gar ein Konsensprinzip. Dabei hatten die Mitglieder stets die Möglichkeit aus dem Kibbuz auszutreten. Insofern hatte dieses Projekt niemals den Zwangscharakter, der häufig der realen Umsetzung sozialistischer Ideen zugeschrieben wird.
Heute sind die meisten Kibbuzim privatisiert, existieren nicht mehr in der vormals sozialistischen Weise. Ma’abarot aber hat seinen Charakter als Kibbuz bewahrt.
Aufgegriffen haben diese Kibbuzidee auch die Filmemacher_innen, denn der Film entstand als ein ehrenamtliches Projekt von sieben Studierenden aus Frankfurt am Main, die jede Entscheidung gemeinsam im Kollektiv trafen und bis zum Schluss Mehrheitsentscheidungen vermieden.
Für die Kibbuzbewegung wie für die Filmemacher_innen freilich gilt, dass all das nur mit viel Idealismus möglich war. Denn die jungen Mitglieder der Kibbuzim kamen nicht in das moderne Israel von heute. Vielmehr fanden sie in Palästina ein weitgehend ungenutztes Land vor, das von Steppe und Wüste durchzogen zunächst kultiviert werden musste. Entsprechend bedeutsam war die Landwirtschaft. So wurde Joav, der bereits in Deutschland Mitglied des sozialistisch-zionistischen Jugendbundes Hashomer Hatzair war, als er nach Palästina kam, zum Traktoristen, arbeitete in der Landwirtschaft und half, aus unfruchtbarem Land Äcker und Felder zu machen. Später wirkte er gar an der Erweiterung des Ben Gurion Flughafens in Lod (bei Tel Aviv) mit. Diese Arbeiten jener jungen Menschen, die nur knapp dem Tod in Europa entronnen waren, waren Grundlage für eine immense Entwicklung. Innerhalb von eineinhalb Generationen wurde aus Palästina ein moderner hochentwickelter Staat. Wer heute durch Israel reist und sich bewusst macht, dass es diese Generation war, die dieses Land aufgebaut hat, kann es kaum glauben. Und ohne den Idealismus, die Energie und Tatkraft, die all die Protagonist_innen des Films bis heute ausstrahlen, wäre dies undenkbar.
Es gehört zu den großen Qualitäten des Films „Erhobenen Hauptes. (Über)Leben im Kibbuz Ma’abarot“ diese Geschichte zu erzählen, dem Kinopublikum einen so lebendigen Eindruck vom Engagement jener damals jungen Menschen zu geben. Dabei näheren sich die Filmemacher_innen den fünf Protagonist_innen des Films mit unglaublich viel Sensibilität und Einfühlsamkeit. Dies führt dazu, dass die Interviewten dem Zuschauer sehr „nahe“ rücken. Entstanden sind intensive Portraits von fünf Menschen, die man niemals wieder vergessen wird. Es ist bemerkenswert, dass ihnen eine solche Nähe in nur zwei Reisen, in denen zudem noch (fast) alle Filmaufnahmen entstanden, gelungen ist. Wer immer einem Filmdreh schon einmal beigewohnt hat, weiß, wie viel Distanz eine Kamera meist schafft. Von dieser Distanz aber, ist nichts zu spüren.
Es bleibt daher nicht nur die Freude über einen großartigen Film, sondern auch die, dass in diesem Projekt offenkundig sich beide Seiten – die Protagonist_innen und die Filmemacher_innen – mit einem großen Vertrauen, großer menschlicher Wärme und Nähe begegnet sind – eine wahrhaft herzerwärmende Erkenntnis.

Kibbuz1Abgerundet wird dieser einfühlsame Film durch eine professionelle Kameraführung von Jaška Klocke, von der sich so mancher Fernsehfilm eine Scheibe abschneiden kann. Auch die sonstige technische Durchführung von Schnitt über Ton bis hin zur Einbindung der wundervollen Klaviermusik lässt nicht erahnen, dass hier keine Profis, sondern Studierende am Werk waren.
So bleibt eine berührende Erfahrung zurück: Hier werden wir Zeugen eines geradezu idealen Umgangs mit Gegenwart und Geschichte: Junge Menschen meiner Generation reagieren mit so viel Menschlichkeit auf das Geschehene und engagieren sich mit so viel Enthusiasmus und Idealismus, dass es einfach nur eine Freude ist. Und – scheinbar ganz nebenbei – kam Zvi, der 1931 in Berlin geboren wurde, zum ersten Mal in ein deutsches Kino. In seiner Kindheit war ihm der Kinobesuch verboten; nach dem Krieg kam er zu Zeitzeugengesprächen. Aber noch nie war er in einem deutschen Kino. Und mit dabei war – natürlich seine Mundharmonika.
Vielen Dank für einen bewegenden Abend!

Wann und wo kann man den Film sehen?
Filmforum Höchst (Frankfurt am Main):
So. 10.11., Mo. 11.11, Di. 12.11. : 20.30/ Mi. 13.11.: 18.30 (an einem Tag in Anwesenheit der Filmemacher/ innen)
Darmstadt: Donnerstag, 28.11.2013 im Rex-Kino
Filmbeginn: 20:30 Uhr.
Veranstalter: Jugendring Darmstadt
Groß-Umstadt: Mittwoch, 06.11.2013 in der Stadthalle Groß-Umstadt
Filmbeginn: 20:00 Uhr
Veranstalter: BDP

Weitere Termine werden wohl folgen. Zu finden sind sie auf der Homepage des Films.

Lust auf mehr Medien des Monats? Eine Übersicht gibt’s hier.

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