[Kiewer Reise] Die Würde der Ukrainer

November 2013: Die Ukrainer demonstrieren auf dem Maidan wie 2004 bei der Orangenen Revolution. Damals forderten sie faire Präsidentschaftswahlen. 2013 ist der Anlass ein nicht unterzeichnetes EU-Assoziierungsabkommen. Doch in Deutschland bleiben viele skeptisch: Demonstrieren da Rechtsradikale? In Kiew fragte ich: Wer sind die Aktivisten? Was wollen sie? Wofür starben sie? Teil 1 meiner Reiseimpressionen.

Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew. Winter 2013/2014.

Proteste auf dem Maidan-Platz in Kiew. Winter 2013/2014. Quelle: Flickr.

Dieser Text ist Teil einer Triologie mit Impressionen einer Kiew-Reise im Oktober/November 2014. Mittlerweile können Sie auch Teil 2 über Armut, Reichtum und die Arroganz des ehemaligen Despoten Janukowitsch hier lesen. Teil 3 (über Geschichte und Geschichtspolitik) erscheint Anfang 2015.

Kateryna Mishenko, Aktivistin des Euro-Maidan. Quelle: IWM.

Kateryna Mishenko, Aktivistin des Euro-Maidan. Quelle: IWM.

Der Maidan ist zugleich Agora und Grabstätte. Der Ort, an dem ein neues politisches Bewusstsein entsteht und der Ort der größten Tragödie seit der Unabhängigkeit der Ukraine. Mit dieser Zwiespältigkeit muss ich von nun an leben, und nicht nur ich. […] Immer noch versuche ich, während ich die Straße entlanggehe, eine Antwort auf die Frage zu finden, wie man über all das, was passiert ist und immer noch passiert, schreiben oder sprechen kann. Was für ein Text kann früher oder später den akuten Drang zu schreien ersetzen? Es fällt mir unglaublich schwer, mit den Lesern in einen Dialog zu treten. Ich würde ja so gern das Gesamtbild erfassen, das Wesentliche herausarbeiten, aber mein Blick kann sich nicht von den Gräbern lösen, die Gedanken bleiben dort hängen, wo sich die Gewaltspirale weiterdreht.“ – Kateryna Mishchenko

Dort, wo die Mykhailivska Straße auf den Maidan trifft, direkt vor dem Kozatskiy Hotel liegen Bauarbeiterhelme, Kerzen und Blumen. Ein paar Meter weiter am Europaplatz stehen die Blumen und Kerzen neben einigen Autoreifen. Auf einer Verkehrsinsel der Hrushevskoho Straße vor dem Eingang zum Dynamo-Stadion weht eine Fahne, daneben erneut Kerzen und Blumen. Vom Maidan kommend auf der linken Straßenseite der Institutskaya liegen hunderte Blumen und es brennen Kerzen. Und genauso ist es an unzähligen anderen Stellen im Zentrum Kiews.

Neben all den Blumen und Kerzen sind Fotos von Männern und Frauen zu sehen. Manche sind in fortgeschrittenem Alter, viele aber noch sehr jung. Sie alle sind Zivilisten. Sie alle wurden ermordet, erschossen. Erschossen von Heckenschützen, auf Befehl von Ex-Präsident Viktor Janukowitsch. Viele hinterlassen eine Familie mit kleinen Kindern.

An der Institutskaya wird der Toten des Maidan gedacht. Hier die 27jährige Olga.

An der Institutskaya wird der Toten des Maidan gedacht. Hier die 27jährige Olga.

Nur 17 Jahre alt war dieser Aktivist als ihn Heckenschützen des Janukowitsch-Regimes erschossen.

Nur 17 Jahre alt war dieser Aktivist als ihn Heckenschützen des Janukowitsch-Regimes erschossen.

Insbesondere jüngere und junge Menschen protestierten auf dem Maidan. Dieser Aktivist wurde im Alter von 33 Jahren bei seinem Kampf für Freiheit und Demokratie erschossen.

Insbesondere jüngere und junge Menschen protestierten auf dem Maidan. Dieser Aktivist wurde im Alter von 33 Jahren bei seinem Kampf für Freiheit und Demokratie erschossen.

Totengedenken auch in der Hrushevskoho Straße, nahe des Europaplatzes.

Totengedenken auch in der Hrushevskoho Straße, nahe des Europaplatzes.

Jeden Sonntag entzünden Freiwillige Kerzen auf dem Maidan zum Gedenken an die Erschossenen.

Jeden Sonntag entzünden Freiwillige Kerzen auf dem Maidan zum Gedenken an die Erschossenen.

Es stellen sich Fragen: Wer ist verantwortlich? War es ausschließlich die ukrainische Spezialeinheit Berkut oder waren russische Sicherheitskräfte Wladimir Putins beteiligt?

Solche Fragen drängen. Aber ich möchte etwas Anderem nachgehen. Denn ich will die Geschichte – besser eine der unzähligen Geschichten – des Maidan erzählen. Es ist nicht die Geschichte des Krieges im Donbass, über den wir täglich in den Zeitungen lesen können. Der Donbass kommt zwar auch in der Geschichte des Maidan vor. Aber es bleibt die Geschichte des Maidan.

Auf der Suche nach den Worten für das „Wesentliche“

Unzählige Blumen zum Gedenken auf dem Maidan. Quelle: Flickr.

Unzählige Blumen zum Gedenken auf dem Maidan. Quelle: Flickr.

Es ist nicht leicht, eine Geschichte des Maidan zu erzählen. Wie kann ich Worte finden, jetzt, da ich vor den Bildern der vielen Toten stehe? Dies beschreibt viel treffender die Aktivistin Kateryna Mishchenko in dem Zitat, das ich diesem Beitrag vorangestellt habe. Sie schreibt mit einem ganz anderen Bezug als ich. Ich komme von außen. Aber auch mir fällt es schwer, die richtigen Worte zu finden. Woran liegt das?

Zum einen daran, dass ich angesichts der Ermordeten nicht einfach zu einer sachlich-politischen Analyse übergehen kann. Wie Mishchenko treffend schreibt: Ich kann nicht einfach das „Wesentliche“ beschreiben – was kann wesentlicher sein als die toten Familienväter?!

Erst in Kiew, konfrontiert mit Aktivisten des Maidan, wird mir wirklich klar, welchen Mut die Menschen zeigten, die den Maidan gegen die brutalen Angriffe der ukrainischen Spezialeinheiten verteidigten, sich nicht vertreiben ließen, sondern für Freiheit und Unabhängigkeit ihr Leben riskierten.

Julia war bereits eine Aktivistin der Orangenen Revolution 2004. Auch den Euromaidan unterstützte die junge Mutter.

Julia war bereits eine Aktivistin der Orangenen Revolution 2004. Auch den Euromaidan unterstützte die junge Mutter.

Wir treffen Julia, eine Unterstützerin des Maidan. Sie ist junge Mutter, nur wenige Jahre älter als ich und war bereits 2004 an der Orangenen Revolution beteiligt. Ihre Stimme ist gebrochen als sie sagt: „Es sind großartige Menschen erschossen worden.“ Und ich weiß: Es hätte auch sie treffen können, die hier vor mir sitzt und die mir zuvor so viel und so liebevoll von ihrem Sohn erzählt hat. Was wäre nur aus ihm geworden?! Ich mag gar nicht daran denken. Doch genau dieses Schicksal ereilte viele andere vergleichbare Familien.

Und trotzdem will ich nicht nur meiner Betroffenheit und meiner Anteilnahme für die Toten und meiner Hochachtung für alle Menschen Ausdruck verleihen, die auf dem Maidan kämpften. Denn sie protestierten für eine politische und gesellschaftliche Vision. Ihnen gerecht werden heißt daher auch, über ihre Ziele, ihre Träume und damit über den Charakter der Bewegung zu schreiben.

Слава Україні! Героям слава! Slava Ukrayini! Heroyam slava! Für Freiheit, Würde und Unabhängigkeit

Wofür starben sie?

Sie wurden erschossen, weil sie sich gegen die Herrschenden wandten und für Freiheit und Würde eintraten. Aus dem sicheren, geordneten Deutschland mag das pathetisch klingen. Aber es ist die Wahrheit. Eine Wahrheit, die uns so fern erscheint und doch unmittelbar vor den Toren der Europäischen Union Realität wurde.

Wofür also traten die Maidan-Aktivistinnen und Aktivisten ein?

Die Proteste des Maidan waren proeuropäisch. Vor allem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erhoffen sich die Aktivisten von einer Annäherung an die Europäische Union. Quelle: Flickr.

Die Proteste des Maidan waren proeuropäisch. Vor allem Demokratie und Rechtsstaatlichkeit erhoffen sich die Aktivisten von einer Annäherung an die Europäische Union. Quelle: Flickr.

Anlass für den Euromaidan war die Nichtunterzeichnung eines Assoziierungsabkommens der Ukraine mit der EU. Es waren daher proeuropäische Proteste. Auf dem Maidan wehten viele Europafahnen. Viele Beobachter aus Deutschland, vor allem vom linken Rand des politischen Spektrums, werden einwenden, dass diese von mir „proeuropäisch“ genannten Proteste doch in Wirklichkeit eine nationalistische Bewegung war.

Tatsächlich war der Protest des Maidan ein nationaler, vielleicht gar ein nationalistischer: Die prägenden Farben der Bewegung – blau-gelb – sind nicht der Europafahne entlehnt, sondern sind die Nationalfarben der Ukraine. Überall in der Stadt, an Treppengeländern, Statuen, Fenstern, Balkonen und öffentlichen Gebäuden sind Fahnen und kleine Bändchen in den Nationalfarben angebracht. Überall in der Stadt ist der Schriftzug Слава Україні! Героям слава! Slava Ukrayini! Heroyam slava! zu lesen. Übersetzt heißt das: Es lebe die Ukraine! Es leben die Helden! Es handelt sich dabei um einen Gruß, der zum einen während des Unabhängigkeitskrieges zwischen 1917 und 1921 und zum anderen in der Ukrainischen Partisanenbewegung während und nach dem Zweiten Weltkrieg entstand.

Sogar das Klavier auf der Straße ist in den blau-gelben Farben der Ukraine gestrichen.

Sogar das Klavier auf der Straße ist in den blau-gelben Farben der Ukraine gestrichen.

Das sind zweifellos Zeichen für den Nationalismus der Bewegung. Und trotzdem wirkt unser politisches Vokabular nicht wirklich treffend: Es geht den Menschen im Kern um die Würde, die Freiheit und die Unabhängigkeit des ukrainischen Volkes und der Ukraine. Es geht ihnen darum, unabhängig von Russland zu werden, eine eigenständige stolze Ukraine als gleichberechtigter Partner in der europäischen Völkergemeinschaft zu werden.

Wenn der Gruß Слава Україні! Героям слава! Bezug auf die Partisanenbewegung nimmt, so nicht deshalb, weil die Partisanen während des Zweiten Weltkriegs zeitweise mit Hitler-Deutschland gegen die Sowjetunion kollaborierten, sondern weil sie als eine mutige Bewegung angesehen werden, die sich gegen die russisch-sowjetische Herrschaft noch bis in die Mitte der 1950er Jahre hinein stellte.

Der Schriftzug Слава Україні! Героям слава! Slava Ukrayini! Heroyam slava! ist nicht nur in der Innenstadt zu lesen. Dieses Bild entstand im Kiewer Stadtteil Darnytsia.

Der Schriftzug Слава Україні! Героям слава! Slava Ukrayini! Heroyam slava! ist nicht nur in der Innenstadt zu lesen. Dieses Bild entstand im Kiewer Stadtteil Darnytsia.

Der Osteuropa-Historiker Wilfried Jilge schreibt dazu: „Den engen Zusammenhang zwischen dieser Identifikation mit einem Symbol einerseits, dem viele Aktivisten vor Beginn der Proteste noch mit Ablehnung und Skepsis begegneten, mit der Erfahrung von enthemmter physischer Gewalt seitens der Staatsmacht und gewaltsamem Widerstand andererseits, hat der leitende Direktor der „Internationalen Renaissance Stiftung“ in Kiew, Jevhen Bystryc’kyj, eindrucksvoll beschrieben, nachdem er die Barrikadenkämpfer auf der Hruševs’kyj-Straße Ende Januar nach ihren Motiven befragte, ihr Leben zu riskieren. Laut Bystryc’kyj hätten fast alle einstimmig geantwortet, dass sie „in einem solchen Land“ nicht mehr leben wollten, sondern „in ihrem Land, einem menschlichen Land“, wofür sie „bis zum Ende“ stehen würden. Diese mutige Haltung, für seine Rechte und sein Land „bis zum Ende“ einzustehen“, habe seine Einstellung zum Gruß „Slava Ukraïni…“ verändert: „Wisst Ihr, früher war ich aus einer Reihe von Gründen misstrauisch gegenüber der Losung Slava Ukraïni Herojam slava“. Aber jetzt, nach diesen Ereignissen muss ich anerkennen […], dass die Losung „Slava Ukraïni“ Realität wurde.

Blau-gelb soweit das Auge reicht: Die Farben der Ukraine sind auch am Geländer der Andreaskirche befestigt.

Blau-gelb soweit das Auge reicht: Die Farben der Ukraine sind auch am Geländer der Andreaskirche befestigt.

Ukrainischer Nationalstolz und Europa widersprechen sich nicht. Hier sind Bändchen mit ukrainischer und europäischer Fahne vereint.

Ukrainischer Nationalstolz und Europa widersprechen sich nicht. Hier sind Bändchen mit ukrainischer und europäischer Fahne vereint.

Das bedeutet nicht, dass wir nicht jedweden Ausdruck dieser ukrainischen Nationalbewegung auf dem Maidan gutheißen müssen. Aber aus der Verwendung des Grußes Слава Україні! Героям слава! den Schluss zu ziehen, die Maidan-Proteste seien rechtsradikal und antisemitisch geprägt, ist dennoch völlig verfehlt.

Spuren des Protestes finden sich auch noch in den Kneipen nahe des Maidan.

Spuren des Protestes finden sich auch noch in den Kneipen nahe des Maidan.

Auf der Suche nach der eigenen Identität

Doch es geht nicht nur um eine äußere Abgrenzung gegenüber Russland. Denn vor allem richtet sich die nationale Bewegung nach innen. Das Nationale an der Maidan-Bewegung ist daher im Wesentlichen eine Selbstvergewisserung und eine Suche nach der eigenen ukrainischen Identität (siehe dazu auch Teil 3 der Ukraine-Triologie).

Sicher waren auch Rechte auf dem Maidan. Doch die große Masse der Protestierenden war es ganz sicher nicht. Quelle: Flickr.

Sicher waren auch Rechte auf dem Maidan. Doch die große Masse der Protestierenden war es ganz sicher nicht. Quelle: Flickr.

In den zurückliegenden Jahrhunderten war die Ukraine immer wieder von verschiedenen Großmächten besetzt oder von ihnen abhängig: vor allem von Russland, aber auch vom Osmanischen Reich, von Österreich-Ungarn und in geringerem Umfang von Polen, Rumänien und in den Weltkriegen von Deutschland. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Ukraine gegen heftigen Widerstand der Sowjetunion einverleibt. Wie stark der Drang nach Unabhängigkeit blieb, zeigt sich in einem Referendum 1991, als sich über 90% der Ukrainer für einen eigenständigen Staat aussprachen. Doch bis heute ist die Ukraine stark russisch geprägt. In Kiew spricht die überwiegende Mehrheit der Menschen auf der Straße als Muttersprache russisch, wenngleich fast alle auch des Ukrainischen mächtig sind.

Hier ist nicht der Raum dieser Identitätssuche im Einzelnen nachzugehen. Ich wende mich diesem Thema im dritten Beitrag meiner „Ukraine-Triologie“ zu, wenn es um Geschichte und Geschichtspolitik geht. Zentral ist für den Moment, dass das Nationale an der Maidan-Bewegung als Schrei nach Eigenständigkeit, Suche nach eigener Identität und Selbstvergewisserung zu verstehen ist. Der darin zweifelsohne enthaltene Nationalismus wurde von der russischen Propaganda rasch mit Antisemitismus, Neonazismus und Rechtsradikalismus verknüpft. Es gehört zu den erschreckendsten medialen Befunden der zurückliegenden Monate, wie sehr diese gezielte Propaganda Putins die europäische Öffentlichkeit prägte.

Schriftzug für eine freie Ukraine und für die Befreiung von Julia Tymoschenko.

Schriftzug für eine freie Ukraine und für die Befreiung von Julia Tymoschenko.

Das bedeutet nicht, dass keinerlei Rechte auf dem Maidan waren. Wir sind aber aufgerufen, genau hinzusehen, wer welche Meinungen vertritt. Denn die überwiegende Mehrheit, darunter übrigens auch viele Kiewer Juden, der Maidan-Bewegung als rechtsradikal anzusehen, weil ihnen die nationale Selbstvergewisserung wichtig ist, ist verfehlt. Die Maidan-Aktivisten möchten als freie ukrainische Nation Teil der europäischen Völkergemeinschaft und der Europäischen Union werden. Deshalb ist diese Bewegung sowohl eine nationale als auch eine pro-europäische.

Der Maidan als Demokratiebewegung

Der Maidan ist aber nicht nur eine nationale, sondern auch eine Demokratiebewegung. Denn neben dem Streben nach Selbstbestimmung von äußeren Einflüssen steht auch das Drängen nach Selbstbestimmung, nach wahrhafter Volkssouveränität im Inneren. Es geht dabei darum, sich von dem schier unermesslichen Einfluss der Oligarchen, die das Land kontrollieren, zu befreien.

Darin unterscheidet sich der Euromaidan von der Orangenen Revolution: 2004 waren die Proteste lange vorbereitet und von der Opposition koordiniert. Diese repräsentierte aber in weiten Teilen kein grundlegend anderes System, sondern eine andere Fraktion von Oligarchen. Die damalige Protestführerin Julija Tymoschenko ist selbst eine Oligarchin.

Mascha ist eine der ersten Akvistinnen des Euro-Maidan. In ihrem kleinen Café in der Mykhailivska Straße versorgte sie auch Verletzte.

Mascha (im Bildhintergrund) ist eine der ersten Akvistinnen des Euro-Maidan. In ihrem kleinen Café in der Mykhailivska Straße versorgte sie auch Verletzte.

Anders der Euromaidan: Auf die Frage, wie es zu den Protesten kam, antwortet mir beispielsweise Mascha, die unter den ersten Aktivistinnen war, die im November 2013 auf den Maidan kamen: „Ich weiß es nicht. Ich kam auf den Maidan, da waren vielleicht 300 Menschen. Wir sagten: Lasst uns das zu einer großen Bewegung machen. Aber wir glaubten nicht wirklich daran. Wir schrieben auf Facebook und erzählten unseren Freunden davon. Und am nächsten Tag waren es 2000. Bald 10000 und irgendwann eine halbe Million. Sie kam aus Kiew und aus dem ganzen Land. Aber wir waren alle völlig überrascht, am meisten die politischen Führer der Opposition.

In diesem Sinne ist die Maidan-Bewegung eine zutiefst demokratische. Es geht ihr um Selbstbestimmung: Selbstbestimmung und Volksdemokratie statt Herrschaft der Oligarchen. Hier dient die EU mit Rechtsstaat und Demokratie als Vorbild.

Die Revolution ist nicht beendet – Europa ist gefordert

Die Revolution ist noch nicht am Ziel. Noch immer gibt es jede Woche politische Aktionen - hier für die territoriale Integrität der Ukraine. Auch Europa ist gefordert, denn...

Die Revolution ist noch nicht am Ziel. Noch immer gibt es jede Woche politische Aktionen – hier für die territoriale Integrität der Ukraine. Auch Europa ist gefordert, denn…

Dies sollte ein Umstand sein, der uns EU-BürgerInnen, die wir tagtäglich über die europäische Bürokratie klagen, von einer EU-Krise reden, die Euro-Krise verfluchen und ggf. gar gegen europäische Verträge in Volksabstimmungen votieren (wie z.B. in Frankreich und Holland), zu denken geben.

Es mag zwar seine Berechtigung haben, wenn wir den ukrainischen AktivistInnen zurufen: Wartet ab bis ihr im Alltag die EU kennenlernt und ihr werdet sehen, dass nicht alles Gold ist, was da glänzt. Aber mit gleicher Berechtigung rufen uns die Ukrainer derzeit zu: Ihr wisst ja gar nicht, was es bedeutet, nicht in der rechtsstaatlich und freiheitlich-demokratisch verfassten EU in Abhängigkeit von Russland zu leben.

Kurzum: Die Tatsache, dass Hunderttausende auf den Maidan für proeuropäische Demonstrationen kamen, sollte uns nicht unberührt lassen! Diese Proteste betreffen uns unmittelbar.

Und die Revolution ist nicht beendet: Das Regime des Viktor Janukowitsch ist gestürzt, die Mörder der Maidan-Aktivisten sind von der Macht vertrieben, die Spezialeinheit Berkut aufgelöst. Aber die Ukraine ringt weiterhin mit Russland um die Unabhängigkeit. Und auch die Frage, ob die Macht der Oligarchen begrenzt wird, sich Demokratie und Rechtsstaatlichkeit durchsetzen können, ist noch nicht geklärt.

...sonst könnte es durchaus passieren, dass sie in nächster Zeit eine weitere revolutionäre Bewegung auf dem Maidan entwickelt. Quelle. Flickr.

…sonst könnte es durchaus passieren, dass sie in nächster Zeit eine weitere revolutionäre Bewegung auf dem Maidan entwickelt. Quelle. Flickr.

Was also kann Europa tun? Worin besteht unsere Verantwortung?

Ich meine, wenn wir als EuropäerInnen für bestimmte Werte stehen wollen, dann sind wir es den Menschen auf dem Maidan schuldig, dass wir ihnen, die nach Freiheit, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit streben und dafür ihr Leben riskierten, beistehen. Die russische Annexion der Krim und die Destabilisierung des Donbass sind völkerrechtswidrig. Sie haben neben der rechtlichen, wirtschaftlichen und politischen auch eine symbolische Dimension. Statt uns zu „Russland-„ und „Putin-Verstehern“ aufzuschwingen, sollten an der Seite der Ukrainer, von denen mehr als Dreiviertel bei den Parlamentswahlen Parteien wählten, die sich explizit für einen pro-europäischen Kurs aussprechen, stehen und bestimmt, wenn auch mit friedlichen Mitteln auf die Souveränität und territoriale Integrität der Ukraine pochen.

Welche Zukunft liegt vor diesem großartigen Land? Dieser die Ukraine lobpreisende Schriftzug findet sich in einer Kneipe in der der Nähe des Maidan.

Welche Zukunft liegt vor diesem großartigen Land? Dieser die Ukraine lobpreisende Schriftzug findet sich in einer Kneipe in der der Nähe des Maidan.

Auch die rechtsstaatlichen und demokratischen Reformen im Inneren sollten wir unterstützen – mit Expertise und auch mit politischen und wirtschaftlichen Anreizen. Die Ukrainer haben mit der Parlamentswahl vermutlich bereits einen Schritt in Richtung mehr Pluralismus und Demokratie gemacht: Präsident Petro Poroschenko ist ein Oligarch. Hätte seine Partei auch die Parlamentswahlen klar gewonnen, hätte ein neuer Oligarch seine Macht zementiert. Jetzt ist er auf die Kooperation mit zwei anderen pro-europäischen politischen Kräften angewiesen – der Volksfront von Premierminister Arsenij Jazenjuk und der Bewegung „Selbsthilfe“, die vom Lwiwer (Lemberger) Bürgermeister Andrij Sadowyj angeführt wird.

Die Hoffnung – eine Seifenblase über dem Dnjepr?

Ist die Hoffnung auf eine neue Ukraine also begründet oder zerplatzt sie wie eine Seifenblase? Diese Frage stellte ich mir, als ich am Ufer des Flusses Dnjepr drei junge Männer, die aus dem Donbass stammen, treffe. Die Sonne geht über der Stadt unter, die Männer machen Seifenblasen, die über den Dnjepr schweben. Die drei sind wahre Seifenblasenkünstler.

Zerplatzen die Hoffnungen wie die Seifenblasen über dem Djneper?

Zerplatzen die Hoffnungen wie die Seifenblasen über dem Djneper?

Der Erfolg ist nicht garantiert. Die Ungeduld und der Frust vieler Maidan-Aktivisten sind nur allzu verständlich. Nach der Revolution gilt es den Alltag auch mit pragmatischen Entscheidungen zu bewältigen. Vieles spricht dafür, dass es pragmatisch sinnvoll wäre, den Donbass aufzugeben. Aber kann man das nach dieser Bewegung der nationalen Unabhängigkeit?

Die Regierung ist gestürzt, die Spezialeinheit Berkut aufgelöst. Doch der Wandel, den die Revolutionäre erstreben, ist noch nicht vollständig vollzogen. Quelle: Flickr.

Die Regierung ist gestürzt, die Spezialeinheit Berkut aufgelöst. Doch der Wandel, den die Revolutionäre erstreben, ist noch nicht vollständig vollzogen. Quelle: Flickr.

Die Revolution ist noch nicht am Ziel. Und das ist gerade im Gedenken an die Toten schwer zu ertragen: Es ist schrecklich, dass sie ermordet wurden. Aber alle hoffen, dass wenigstens die Ideale, für die sie starben, Realität werden.

Ja, ich bin ein Optimist. Ich glaube, dass zumindest die politische Führung in Europa die Zeichen erkannt hat. Ja, ich bin überzeugt, dass die Energie, der Wille und die Kraft der Ukrainer das Land in eine bessere Zukunft führen werden, eine Zukunft in Unabhängigkeit, Freiheit, Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Doch der Weg ist steinig.

Aber die Menschen müssen versuchen nicht zu verhärten, nicht zu verbittern, sondern weiter beharrlich, kritisch und geduldig für die eigenen Ziele einzutreten.

Für die Ukraine. Aber auch für die Toten des Maidan.

Für Kommentare und Kritik zu diesem Text danke ich Jelena Bellmer.

Dieser Text ist Teil einer Triologie mit Impressionen einer Kiew-Reise im Oktober/November 2014. Teil 2 über die Armut der Bevölkerung und die Scheinwelt, in der die Mächtigen um Ex-Präsident Viktor Janukowitsch lebten, können Sie hier lesen. Anfang 2015 wird dann auch Teil 3 über Geschichte und Geschichtspolitik online gehen.

Literatur:

Andruchowytsch, Juri (Hrsg.) (2014): Euromaidan. Was in der Ukraine auf dem Spiel steht. Frankfurt am Main: Suhrkamp. (darin auch das Zitat von Mishchenko auf S. 21 f.)

Sapper, Manfred et al. (Hrsg.) (2014): Zerreißprobe. Ukraine: Konflikt, Krise, Krieg. Osteuropa. Jahrgang 64, Heft 5/6. (darin auch das Zitat von Jilge auf S. 248 f.)

Sapper, Manfred et al. (Hrsg.) (2014): Im Namen des Volkes. Revolution und Reaktion. Osteuropa. Jahrgang 64, Heft 1.

4 Kommentare

  1. Herr Rühling, Sie bringen hier leider einiges durcheinander. Auf der einen Seite versuchen Sie die westlich orientierte Bewegung am Maidan heraus zu kristallisieren, übertragen diese dann aber auf die ganze (zutiefst gespaltene) Ukraine. Der Osten hat nunmal einen ganz anderen Bezug zu Russland bzw. die westliche Ukraine zur EU. Dann übergehen mit kurzen Argumentationen rechten Nationalismus, der neben vielen anderen Strömungen Teil der Bewegung ist, und stempeln das Krim-Referendum in einem Satz als völkerrechtswidrig ab. (Dem gegenüber steht das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ und ist zumindest diskutabel).

    Das schlägt viele Parallelen zu der Berichterstattung der deutschen Presse, die sich in naher Vergangenheit bereits einer sehr grundsätzlichen und kontroversen Debatte stellen musste.

    MfG,
    BitterJacob

  2. Werter BitterJacob,
    haben Sie vielen Dank für Ihren Kommentar.
    Ich befürchte nur, Sie sitzen an an mehreren Stellen der Propaganda des Kreml auf:
    Zu den Fakten:
    Die Parlamentswahlen haben in nahezu der gesamten Ukraine – auch im Osten – stattgefunden. Ausgenommen sind waren die insgesamt kleinen umkämpften Gebiete in den Bezirken Luhansk und Donezk. Auch Teile dieser beiden Bezirke haben an den Parlamentswahlen teilgenommen. In dieser Wahl haben keine 15% pro-russische Parteien gewählt. Niemand behauptet, dass es diese 15% nicht gibt. Aber eine 85%-Mehrheit wäre wohl auch wenn das gesamte Land gewählt hätte, nicht mehr so radikal kleiner geworden…
    Dann die Völkerrechtswidrigkeit der Krim-Annexion: Diese Meinung habe ich mitnichten exklusiv. Sie ist innerhalb der völkerrechtlichen Literatur doch weitgehend unumstritten. Natürlich gibt es ein Selbstbestimmungsrecht der Völker. Aber sogar Vladimir Putin hat längst zugegeben, dass seine Soldaten die Krim zum Zeitpunkt des sogenannten „Referendums“ längst besetzt hielten.
    Es ist möglich, dass die Mehrheit der Menschen auf der Krim einen Anschluss an Russland wünschte. Aber sowohl die massive militärische Präsenz der russischen Armee als auch die wahnsinnige Geschwindigkeit, mit der Putin dieses „Referendum“ durchführen wollte, sprechen dafür, dass er sich seiner Sache nicht sonderlich sicher war.
    Kurzum: Selbst wenn die Mehrheit tatsächlich für einen Anschluss an Russland war, so war dieses Vorgehen zur Annexion immer noch völkerrechtswidrig. Es handelte sich de facto um eine militärische Invasion und eine Besatzung.
    Und zum Schluss zu Ihrem Vorwurf, ich würde rechtsnationalistische Tendenzen innerhalb der Bewegung ignorieren. Wenn Sie noch einmal in den Beitrag schauen, so werden Sie sehen, dass ich mitnichten das Vorhandensein solcher Strömungen leugne. Aber ich bin überzeugt, dass das, was wir im Westen darunter verstehen – Fremdenfeindlichkeit, Neonazis, Antisemitismus – für die übergroße Mehrheit der Maidan-Bewegung nicht zutrifft. Es ist ein Nationalismus, der auf nationale Selbstbestimmung und Unabhängigkeit von Russland zielt. Faschisten und Neonazis gibt es in der Propaganda des Kreml, nicht auf dem Maidan. Auch hierzu noch zwei Zahlen: In Deutschland gab es 2014 wieder über 1000 antisemitische Straftaten, in der Ukraine 13. Vertreter der jüdischen Gemeinde lachen übrigens über diejenigen, die sie fragen, ob sie sich in Kiew noch sicher fühlen. Viele Mitglieder der jüdischen Gemeinde haben selbst auf dem Maidan protestiert.
    Und erneut sollten Sie auch hier wieder die Wahlergebnisse zur Kenntnis nehmen: Keine der rechten Parteien hat den Einzug ins Parlament geschafft. Wenn Sie Svoboda und den Rechten Sektor beide in einen Topf werfen, was inhaltlich glaube ich nicht gerechtfertigt ist, kommt man auf 7% für beide Parteien zusammen. Der Rechte Sektor hat keine 2% erhalten.
    Erneut: Es gibt Nationalismus. Es gibt auch Faschismus und Neonazis in der Ukraine. Aber Faschisten und Neonazis gibt es sehr wenige (wie es sie leider in jedem Land gibt) und der Nationalismus ist zunächst erst einmal als Selbstbestimmungsbewegung zu verstehen.
    Zur deutschen Presse äußere ich mich nicht. Die mag sich selbst verteidigen. Ich habe mich auf meine eigenen Eindrücke in Kiew und auf wissenschaftliche Arbeiten, nicht auf Presseberichte, gestützt.

  3. BitterJacob · · Antworten

    Danke für die ausführliche Antwort.

  4. Ich danke für den Kommentar. Für den Austausch unterschiedlicher Ansichten sind Blogs wie dieser ja entstanden…
    Über die inhaltliche Antwort ist dieser Aspekt heute Nachmittag bei meinem Kommentar untergegangen.
    Besten Dank!

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