Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen?

Drei Bücher - eine Rezension: Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen?

Drei Bücher – eine Rezension: Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen?

Seit einigen Jahren wird in den IB über die künftige Rolle Chinas in der Weltpolitik diskutiert. Insbesondere seit die Turbulenzen im Weltfinanzsystem Amerika und Europa in die Krise gestürzt haben, zeigen sich große Teile der Öffentlichkeit besorgt über den wachsenden Einfluss der Volksrepublik. Aber wie wird sich China entwickeln? Eine Sammelrezension mehrerer 2011 zu diesem Thema erschienener Bücher.

Der Aufstieg Chinas hat sowohl in der Öffentlichkeit als auch in den IB erhebliche Aufmerksamkeit erregt. Insbesondere die Erwartung, die Volksrepublik könne die ökonomische im Verlauf einer Dekade (Internationale Währungsfonds) zur größten Volkswirtschaft der Welt werden, hat zu Ängsten bei westlichen Beobachtern geführt. Neben dem drohenden Machtverlust sind vor allem der autokratische Charakter des politischen Systems, die Missachtung von wesentlichen Freiheitsrechten sowie der Nationalismus Chinas und der daraus möglicherweise resultierenden aggressiven Außenpolitik Gegenstand der Sorgen. Doch wie wird sich China entwickeln? Sind diese Bedenken berechtigt?

In „Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen?“ ist in einer Munk-Debate der Aurea Foundation zu diesem Thema dokumentiert worden. Die Debatte, in der der in Harvard lehrende Wirtschaftshistoriker Niall Ferguson und der wissenschaftliche Berater der chinesischen Zentralbank, David Daokui Li, eher die Ansicht vertreten, China werde das 21. Jahrhundert beherrschen während der ehemalige US-Außenminister Henry Kissinger und der Journalist Fareed Zakaria dieser Prognose skeptisch gegenüberstehen, verdeutlicht eines: Umstritten ist nicht der Machtzuwachs Chinas, sondern Ausmaß und Bewertung dieser Entwicklung. Entsprechend ist die Frage eher, ob künftig von einer Beherrschung durch China gesprochen werden kann, wenngleich offen bleibt, unter welchen Umständen davon gesprochen werden kann.

Spannender als diese ausgesparte Definitionsfrage sind jedoch die inhaltlichen Indikatoren, die die Diskussionsteilnehmer zu ihren Einschätzungen bringen. Im Wesentlichen lassen sich dabei drei Sachbereiche voneinander unterscheiden: Demographie, Ökonomie und Politik.

Demographisch wird einerseits darauf verwiesen, dass in China ein Fünftel der Weltbevölkerung lebt. Andererseits betont Zakaria, dass noch nie ein Land mit einer sinkenden Einwohnerzahl die Welt dominiert habe. Genau diese Entwicklung stehe dem Reich der Mitte jedoch bevor. Ferguson hält dem jedoch entgegen, in China lebten nicht nur viele Menschen, sondern auch zunehmend gut ausgebildete. In Kürze würden die Chinesen mehr Patente anmelden als die Deutschen. Zudem verdeutliche das Ausmaß der Verschuldung westlicher Staaten, dass China zum bedeutendsten Investor weltweit aufgestiegen sei. Zakaria hält diesen Argumenten entgegen, man könne nicht von einer Fortsetzung des großen Wachstums ausgehen. Die Ineffizienz der chinesischen Wirtschaft solle nicht unterschätzt werden. Auch Japans großes Wirtschaftswachstum habe zur irrtümlichen Annahme eines weiteren Aufstiegs einer ostasiatischen Macht geführt.

Li hingegen meint in China erhebliche Energiereserven für weitere Reformen zu entdecken, die eine Fortsetzung der enormen Wandlungsfähigkeit – politisch und ökonomisch – der zurückliegenden Zeit nahe lege. Der Reformprozess, der weltweit große Beachtung finde und vor allem in Entwicklungsländern Bewunderung und Interesse sowie den Versuch der Nachahmung hervorrufe, sei noch nicht einmal zur Hälfte abgeschlossen. China biete ein alternatives Gesellschaftsmodell, das das Wohl der Gemeinschaft ins Zentrum rücke. Die umfassenden Reformen Chinas werden auch von Zakaria und Kissinger anerkannt. Doch die innenpolitischen Herausforderungen seien noch immer gewaltig. Zakaria betont, das politische System Chinas sei in der Krise, was an der wachsenden Kritik vor allem in der Mittelschicht, zu der der Staatsapparat noch kein adäquates Verhältnis gefunden habe, zum Ausdruck komme. Kissinger führt aus, der Staat müsse jährlich 24 Millionen Arbeitsplätze schaffen, die Städte 6 Millionen Zuwanderer aufnehmen, das Land mit einem erheblichen Wohlstandsgefälle zwischen den Küstenregionen, die auf dem Stand einer Industrienation seien, und dem Entwicklungsländern ähnelnden Binnenland zurechtkommen, die wachsende soziale Ungleichheit moderieren und mit einer fluktuierenden Bevölkerung von 150 bis 200 Millionen fertig werden. Kurzum: Die innenpolitischen Herausforderungen seien es, die Chinas Ambitionen zur Weltmacht verhinderten.

Dass diese Streitfragen auch innerhalb Chinas kontrovers diskutiert werden, zeigt ansatzweise Kissingers Monographie „China. Zwischen Tradition und Herausforderung.“ Der ehemalige US-Außenminister, der maßgeblich an der Wiederaufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen China und den Vereinigten Staaten zur Zeit Ronald Reagans und Mao Zedongs beteiligt war, legt eindrucksvoll das immense außenpolitische Geschick der regierenden Kommunistischen Partei Chinas dar, deren Denken er überzeugend in der alten (konfuzianischen) außenpolitischen Denktradition verortet. Eindrucksvoll wird deutlich, dass es Pragmatismus, Wandlungs- und Lernfähigkeit, Geduld und Zurückhaltung waren, die zu Chinas Aufstieg führten. Auch deshalb wird in der Volksrepublik heftig diskutiert, ob der Weg der Bescheidenheit wirklich durch eine triumphalistische Sicht eines dominierenden Chinas ersetzt werden sollte.

Am Ende der Munk-Debate wurde eine Abstimmung durchgeführt, die zeigte, dass Kissinger und Zakaria deutlich mehr Zuhörerinnen und Zuhörer zu überzeugen wussten. Dafür gibt es aus meiner Sicht gute Gründe, denn eine ganze Reihe weiterer Herausforderungen zu Zusammenhänge verdeutlicht die erheblichen innenpolitischen Herausforderungen, die Chinas außenpolitische Ambitionen begrenzen: In demographischer Hinsicht muss erwähnt werden, dass China auf eine erhebliche Überalterung (unter Anderem als Folge der Ein-Kind-Politik) zugeht. Eine Entwicklung, die dem ohnehin wenig ausgebauten Sozialsystem der Volksrepublik gravierende Schwierigkeiten bereiten dürfte. Altersarmut könnte die ohnehin bestehenden sozialen Unterschiede in China noch verstärken.

Ein gewohntes Bild: Abgase über Chinas größter Stadt Chongqing

Ein gewohntes Bild: Abgase über Chinas größter Stadt Chongqing

Darüber hinaus werden für die Erhaltung des enormen Wirtschaftswachstums eine Zerstörung der Umwelt und mögliche ökologische Katastrophen in Kauf genommen. Schon heute ist blauer Himmel über Chinas Großstädten – vor allem jene, die nicht direkt am Meer liegen – eine Seltenheit, weil die Abgase „Nebelwolken“ über den Städten produzieren. Das Grundwasser ist in weiten Teilen Chinas ungenießbar. Sollen langfristig umfassende Beeinträchtigungen der Gesundheit von Millionen von Menschen ausgeschlossen werden, muss sich das Wirtschaftsmodell Chinas wandeln und Nachhaltigkeit in den Mittelpunkt stellen. Zwar wächst das Umweltbewusstsein in China. Doch ein solcher Umbau der Wirtschaft stellt eine gewaltige Herausforderung dar.

Was die politische Dimension der Herausforderung betrifft, ist das Bild jedoch uneindeutiger. Während in Europa und den USA die wachsende Mittelschicht und die zunehmende Pluralisierung der chinesischen Gesellschaft hervorgehoben und daraus der Ruf nach Demokratie und Menschenrechten geschlussfolgert wird, ist bislang die relative Zufriedenheit der Bevölkerung mit den nationalen politischen Institutionen, einschließlich der Führungsrolle der Kommunistischen Partei bemerkenswert hoch. Unzufriedenheit gibt es hingegen hauptsächlich mit lokalen Führungen und die daraus resultierenden sozialen Proteste richten sich zumeist gegen konkrete lokale Projekte. Die Aufmerksamkeit, die aufrechten wie bewundernswerten Persönlichkeiten wie Liu Xiabo, Liao Yiwu oder Ai Weiwei geschenkt wird, sollte nicht darüber hinwegtäuschen, dass es sich hierbei um Einzelmeinungen handelt, die mitnichten eine Massenbewegung repräsentieren. Vielmehr besteht große Zufriedenheit über den relativ wachsenden Wohlstand in den zurückliegenden Jahrzehnten für nahezu alle Schichten der Gesellschaft wie auch der umfassende internationale Machtzuwachs Chinas.

An dieser Stelle möchte ich auf Chan Koonchungs Roman „Die fetten Jahre“ zu sprechen kommen. Denn die Protagonisten in Chans Roman – Schriftsteller und Intellektuelle – dürsten nach Freiheit und leiden unter der Zensur der chinesischen Führung. Aber als sie gegen Ende mit den Errungenschaften der autokratischen Regierung konfrontiert werden, wird auch der Respekt des kritischen Autors Chan für den chinesischen Aufstieg und die zunehmende Zufriedenheit durch Wohlstand deutlich. Die Charaktere des als Roman kaschierten politischen Statements bleiben zwar holzschnittartig, die Rahmenhandlung vorhersehbar und einfältig. Einen literarischen Leckerbissen hat Chan nicht vorgelegt. Doch vor allem der Schlussteil verdeutlicht den politischen Gehalt des Werkes. Trotz Kritik bleibt die politische Botschaft von Chans Roman erfrischend ambivalent: die Unfreiheit im gegenwärtigen China anprangernd, die Erfolge der regierenden autokratischen Führung gleichwohl implizit anerkennend. Es ist mitnichten ein Abgesang auf die Freiheit, aber für den europäischen Leser eine Erinnerung daran, dass neben der Verletzung der Menschenrechte das Land auch den Weg aus der Massenarmut nebst Hungersnöten hin zu bescheidenem Wohlstand geschafft hat. Diese Entwicklung ist eng mit der autokratischen Führung verbunden. Die Entwicklung ist hoffentlich noch nicht am Ende. Aber es ist durchaus verständlich, dass das Erreichte von weiten Teilen der Bevölkerung anerkannt wird und ein gewisses Maß an Dankbarkeit und Vertrauen in die gegenwärtige Führung weiterhin existiert.

Dies garantiert im Übrigen derzeit auch die Regimestabilität in China – ein Fakt, den wir trotz aller Menschenrechtsverletzungen begrüßen sollten. Denn die Volksrepublik ist längst ein so starker Akteur der Weltpolitik geworden, dass sein Zerfall erhebliche wirtschaftliche und politische, vermutlich auch (innerstaatlich) blutige Konsequenzen hätte.

Kissinger, Henry/Zakaria, Fareed/Ferguson, Niall/Li, David Daokui (2011): Wird China das 21. Jahrhundert beherrschen? Eine Debatte. Berlin: Pantheon.

Chan, Koonchung (2011): Die fetten Jahre. Frankfurt am Main: Eichborn.

Kissinger, Henry (2011): China. Zwischen Tradition und Moderne. München: Bertelsmann.

Einen weiteren Beitrag von Tim Rühlig zu China findet sich hier.

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