Was bleibt von der Souveränität?

Der Westfälische Friede gilt bis heute als Symbol der Bedeutung staatlicher Souveränität.

Der Westfälische Friede gilt bis heute als Symbol der Bedeutung staatlicher Souveränität.

Die Bedeutung staatlicher Souveränität und die Rolle des Staates werden seit einigen Jahren in Politik und Wissenschaft hitzig diskutiert und die Bedeutung staatlicher Souveränität in Frage gestellt: Die veränderten Problemlagen in Zeiten der Globalisierung hätten politische Bewältigungsstrategien notwendig gemacht, die nicht mehr durch intergouvernementale Kooperation zu lösen sei, argumentieren einige. Hinzu kommt der Ruf nach einer Stärkung kosmopolitischer Herrschaft. Doch es gibt auch Hinweise auf gegenteilige Entwicklungen.

In Europa wird das Verhältnis zwischen Europäischer Union und seinen Mitgliedsstaaten so heftig wie selten diskutiert: Wie viel Kompetenzen sollen an Brüssel abgetreten werden?, wird nicht erst seit der Eurokrise immer wieder gefragt. Welchen Wert messen wir den Staaten und ihrer Souveränität bei?

Diese Diskussion beschränkt sich nicht auf diesen Kontinent. Denn seit Ende des Zweiten Weltkrieges ist, initiiert durch die USA, ein Bedeutungszuwachs Internationaler Institutionen zu verzeichnen. Die Internationalisierung der Politik hat – ob intendiert oder nicht – zur Internationalisierung der Problemlagen geführt. Die Regulierung der Finanzmärkte, der transnationale Terrorismus oder das Problem des Klimawandels sind nur einige Beispiele dafür, dass effektive Problemlösung nicht mehr durch einen oder einige wenige Staaten in Kooperation erfolgen kann, sondern zu Problemlagen mit (nahezu) globaler Reichweite geworden sind.

Dem Verlust an Steuerungskapazität des Nationalstaates steht jedoch nicht nur das Erstarken Internationaler Institutionen, sondern auch ein Machtzuwachs von transnational agierenden Akteuren (bestehend sowohl aus der nicht Profit orientierten Zivilgesellschaft als auch aus transnational agierenden Unternehmen) gegenüber.

In Internationalen Institutionen haben zivilgesellschaftliche Akteure zwar kein Stimmrecht. Doch wer einmal eine UN-Klimaschutzkonferenz besucht hat, der weiß, dass NGO-Beteiligung nicht ohne Wirkung bleibt. Ein Beispiel: Da die Verhandlungen in zahllosen Foren zu unendlich vielen Einzelfragen geführt werden, ist das Verhandlungsgeschehen für fast alle unüberschaubar. Die Delegierten der Staaten erhalten durch das von einer NGO herausgegebene und kostenlos verteilte Earth Negotiation Bulletin jeden Tag einen Überblick über den Stand der Verhandlungen, der den eigenen Zugang zu den Verhandlungen erheblich mitprägt.

Der damit einhergehende Verlust der Bedeutung des Nationalstaats und staatlicher Souveränität – es ist die Rede von der „postnationale Konstellation“ – ist jedoch von einem Teil der Wissenschaft zusätzlich begrüßt worden: Die zunehmende Interdependenz habe erstens zur Verteuerung von Kriegshandlungen geführt und damit die Friedenswahrscheinlichkeit deutlich erhöht. Zweitens wird jedoch argumentiert, dass mit dem Bedeutungsverfall des Nationalstaates andere, sub-staatliche Akteure, die sich zunehmend transnational vernetzen, an Bedeutung gewinnen und so zu einer Demokratisierung der Weltpolitik beitragen könnten, direkten Zugang zu Entscheidungsverfahren ermöglichten und marginalisierte Gruppen vertreten könnten. Mit dem gewachsenen globalen Bewusstsein sei es ihnen möglich geworden, Argumente wirkungsmächtig in den Diskussions- und Entscheidungsprozess des internationalen Regierens einzubringen, oder durch eigene Kompetenzen und Expertise bei Lösungsformulierung aber auch Implementierung eine zentrale Rolle einzunehmen. Zusätzlich besteht die Hoffnung, solche zivilgesellschaftlichen Akteure könnten als Keimzelle eines globalen Bewusstseins in der Breite der Bevölkerung dienen, die letztlich zu einer globalen Solidarität führe, eine Voraussetzung für eine nachhaltige Demokratisierung der Weltpolitik.

Diese Hoffnung auf eine Demokratisierung der Weltpolitik ist freilich fragwürdig, da die substaatlichen Akteure partikulare Interessen vertreten und häufig gegenüber der Bevölkerung nicht rechenschaftspflichtig sind. So bleibt die Begeisterung für die Entstaatlichung weitgehend ein Elitenprojekt, was Craig Calhoun dazu bringt, von einer neuen Form der Klassenherrschaft zu sprechen.

Neben diese normative tritt eine empirische Kritik: So werde, argumentiert beispielsweise Harald Müller, der Grad der Entstaatlichung überschätzt, denn die Entscheidungskompetenz verbleibe bei den Staaten. Auch agierten die nichtstaatlichen Akteure weiterhin im Rahmen der Staaten, die entsprechend die Regeln des NGO-Handelns definierten.

Dennoch ist die Stärkung Internationaler Institution unübersehbar, besonders ausgeprägt seit dem Ende des Ost-West-Konfliktes innerhalb der Weltregionen: Europa (Einheitliche Europäische Akte, Maastricht und Lissabon Vertrag, Währungsunion), Afrika (Ablösung der OAU durch die AU), Lateinamerika (Mercosur), Zentralasien (SOZ) und Südostasien (ASEAN Charta) sind Beispiele für eine Vertiefung regionaler Kooperation, wenngleich in sehr unterschiedlichem Umfang. Dieser Regionalisierungstrend hat auch vor der Sicherheitskooperation nicht halt gemacht: Die prominentesten Beispiele sind die Einführung der Europäischen Außen- und Sicherheitspolitik 1999, die African Peace and Security Architecture (APSA) der AU (seit 2002), die Gründung der Union of South American Nations (UNASUR), die das South American Defense Council (SDC) einschließt, die Gründung des ASEAN Regional Forum (ARF) und in Zentralasien sowohl die Sicherheitskooperation innerhalb der SOZ als auch die Zusammenarbeit in der Collective Security Treaty Organization (CSTO) unter Führung Russlands.

Auch die Volksrepublik China, die rhetorisch immer wieder für den Wert der Souveränität eingetreten ist, hat sich diesen Entwicklungen nicht vollständig entzogen: Auf regionaler Ebene begann China eine signifikante Kooperation mit ASEAN in den 1990er Jahren. Vor allem die Asiatische Finanzkrise 1997, in der Hilfe sowohl durch die USA als auch die Bedingungen des IWF von vielen Staaten als überaus hart empfunden wurden, verstärkte den Drang nach innerasiatischer Kooperation. Auch war China bereit sich in regionalen Institutionen zu beteiligen, in denen andere starke Staaten das große Gewicht der Volksrepublik deutlich schmälern, wie z.B. das ARF, in dem auch die USA vertreten sind. In Zentralasien arbeitete China gar aktiv auf die Gründung der Schanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ) hin.

Allerdings ist die regionale Zusammenarbeit von einer Betonung der „ASEAN Way“ bzw. des „Schanghai Spirit“, die den Wert von Souveränität, Nichteinmischung und Einstimmigkeit hervorheben, geprägt. Entsprechend verbleibt die multilaterale Kooperation zumeist auf der Ebene rechtlich nicht bindender Vereinbarung, wie z.B. einigen Verhaltenskodizes, während substantielle Vereinbarungen häufig noch bilateral vereinbart werden und südostasiatische Staaten gar um die besten Vereinbarungen mit China konkurrieren. Beispiele dafür, dass die regionale Zusammenarbeit dennoch nicht wirkungslos geblieben ist, sind die China-ASEAN Freihandelszone oder die Einrichtung eines Terrorabwehrzentrums der SOZ.

Global wird Chinas veränderte Politik am deutlichsten anhand des Beitritts zur Welthandelsorganisation (WTO) sichtbar. Diese Mitgliedschaft erforderte die Akzeptanz einer freien Marktwirtschaft durch den Abbau von Handelshemmnissen, erleichterten Zugangsbedingungen ausländischer Firmen zum chinesischen Markt, Abbau von Subventionen, Beschränkungen bei den Entscheidungsabläufen in Staatsunternehmen etc.

Und dennoch ist es gerade der Aufstieg der Volksrepublik China, der einen Abgesang auf die Bedeutung staatlicher Souveränität am meisten als verfrüht erscheinen lässt. Denn das Reich der Mitte präsentiert sich zunehmend machtbewusst. Da der Aufstieg Chinas ein Aufstieg des chinesischen Staates ist und das Land nur über eine schwach ausgebildete Zivilgesellschaft verfügt, würde ein Bedeutungsverlust staatlicher Souveränität – zumindest kurzfristig – die gerade gewonnene Macht Chinas erheblich einschränken: So bleibt das Land der Einbindung zivilgesellschaftlicher Akteure gegenüber skeptisch. Chinas Eintreten für die „ASEAN Way“ und den „Schanghai Spirit“ sind weitere Anzeichen dafür, dass die Volksrepublik nur zu bedingten Einschränkungen der souveränen Rechte bereit ist. Und auch mit Blick auf mögliche institutionelle Reformen der UNO hebt China zwar rhetorisch die Notwendigkeit zur stärkeren Einbindung mit vermehrten Rechten für Entwicklungsländer hervor. Doch wird stets die Notwendigkeit eines Konsenses für eine solche Reform hervorgehoben, was die Erfolgswahrscheinlichkeit reduziert und das Bild einer status quo-Macht zeichnet, die sich in ihren Interessen und Zielen einig mit den USA ist. Die Abwehr einer möglichen machtpolitischen Schwächung Chinas betrifft auch den Vorstoß der S-5 (Jordanien, Liechtenstein, Costa Rica, Singapur und die Schweiz) nach einer responsibility not to veto.

Chinas Eintreten für Souveränität und Selbstbestimmung zeigt sich schließlich auch daran, dass der IWF Schwierigkeiten hat, seine Politik konditionierter Kredite gegenüber zahlreichen afrikanischen Ländern durchzusetzen, denn China bietet zinsgünstige Darlehen mit wesentlich geringeren politischen Auflagen. So wird die Tatsache, dass die Universalisierung der westlichen, liberalen Demokratie zum Stillstand gekommen ist, auch auf die wachsende Macht Chinas zurückgeführt.

Hier scheint das Ende des Bedeutungsverlustes von Staat und Souveränität zu liegen: Denn es ist nicht verwunderlich, dass diese, den Wert der Souveränität betonende chinesische Politik in Afrika, sehr erfolgreich ist. Viele afrikanische Staaten haben erst vor wenigen Jahrzehnten ihre Unabhängigkeit erlangt; vielerorts werden weiterhin bewaffnete Konflikte um Grenzziehungen ausgetragen. In dieser Situation erscheint eine Bedeutungserosion des Staates völlig abwegig.

Schlussendlich sollte bedacht werden, dass selbst in Europa, dem Kontinent, auf dem am ehesten Staaten ihre Bedeutung verlieren, Grenzen, Territorien und nationale Identitäten weiterhin die Politik maßgeblich prägen.

Wie weit wird also staatliche Souveränität erodieren? Welchen weltpolitischen Zwängen sehen wir uns gegenüber? In welchem Maße ist ein Wandel wünschenswert? Wo sind die seine Grenzen? Diese und viele weitere Fragen lassen die Zukunft der Souveränität zu einer Gretchenfrage der aktuellen Forschung zu den Internationalen Beziehungen werden.

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