„Verantwortung“ oder „Pazifismus“? Deutschlands Außenpolitik am Scheideweg

Kriege in der Ukraine, Israel/Palästina, im Irak und in Syrien – die Lage um Europa herum ist so dramatisch und tödlich wie lange nicht mehr. Das führt nun auch in Deutschland zu ersten überfälligen Ansätzen einer Diskussion um die eigene außenpolitische Rolle. Was heißt Verantwortung übernehmen heute? Ein Plädoyer.

Von Tim Rühlig und Elena Wolfinger*

Syrische Flüchtlinge in Eribl im Nordirak: Wie können, wie sollen wir ihnen helfen? Quelle: Flickr.

Syrische Flüchtlinge in Erbil im Nordirak: Wie können, wie sollen wir ihnen helfen? Quelle: Flickr.

Es kommt nicht allzu häufig vor, dass in Deutschland über außenpolitische Grundsätze diskutiert wird. Doch die Krisen mehren sich und der Ruf nach einer klaren Haltung Deutschlands wird international lauter – ob in der Ukraine-Krise oder bei der Frage von Waffenlieferungen an die Kurden im Nordirak. Noch immer hinkt die deutsche Diskussion diesen Realitäten hinterher. Aber immerhin: erste Ansätze einer Debatte zeigen sich. Dabei wird von „mehr internationaler Verantwortung“, einer „Kehrtwende“ und einem „Tabubruch“ vor allem in Hinblick auf die Waffenlieferungen in den Irak gesprochen.

Während es im Bundestag eine breite Zustimmung zu den Waffenlieferungen gab, lehnen sie Zweidrittel der Bevölkerung ab, obwohl der etwa gleiche Anteil in Umfragen die Terroristen des sogenannten „Islamischen Staates“ für eine direkte Bedrohung Deutschlands hält.

Beklagt Orientierungslosigkeit in der deutschen Öffentlichkeit: der Historiker Heinrich-August Winkler. Quelle: Flickr.

Beklagt Orientierungslosigkeit in der deutschen Öffentlichkeit: der Historiker Heinrich-August Winkler. Quelle: Flickr.

Der Historiker Heinrich-August Winkler gibt in diesem Zusammenhang nicht zu Unrecht zu bedenken: „Ich glaube in den Meinungsumfragen spiegelt sich auch die Tatsache wider, dass es eine Diskussion über grundlegende Fragen der Außenpolitik in den vergangenen Jahren bei uns kaum gegeben hat. Und in Folge dessen beobachten wir eine gewisse Orientierungslosigkeit in der Öffentlichkeit.

„Nie wieder Krieg“ – ein Motto der Vergangenheit?

Dabei gibt es gute Gründe, dass Deutschland international eine zurückhaltende Rolle spielen sollte. So argumentiert die ehemalige Ratsvorsitzende der Evangelischen Kirche, Margot Käßmann: „Gerade hundert Jahre nach Beginn des Ersten, fünfundsiebzig Jahre nach Beginn des Zweiten Weltkriegs und nach dem fünfundzwanzigjährigen Jubiläum einer friedlichen Revolution wünsche ich mir, dass von Deutschland Friedensoptionen ausgehen und nicht Waffenlieferungen.

Es ist also gerade ein Ergebnis deutscher Erfahrungen und deutscher Geschichte, dass in diesem Land eine große Skepsis gegenüber militärischen „Lösungen“ besteht. Die Lehre insbesondere aus der NS-Zeit scheint zu sein: Nie wieder Krieg. Die Generation derer, die den Zweiten Weltkrieg noch bewusst miterlebt haben, ist alt geworden. Aber auch und gerade die „68er“-Generation stärkte den Pazifismus in Deutschland, der längst Unterstützung in weiten Teilen der bundesdeutschen Öffentlichkeit findet: Selbst die Wiederwahl der rot-grünen Regierung unter Gerhard Schröder 2002 wird rückblickend maßgeblich der Ablehnung des Irakkrieges zugeschrieben. Entsprechend erklärt sich auch die mehrheitliche Ablehnung des Bundeswehrengagements auf dem Balkan im Allgemeinen und in den Kriegen im Kosovo und in Afghanistan im Besonderen.

Gleichzeitig zeigen diese Beispiele: Deutschland beteiligt sich an Militäreinsätzen und ist zudem zum drittgrößten Waffenexporteur der Welt geworden. Es scheint uns daher nicht angemessen im Jahr 2014 von einem Tabubruch zu sprechen: Deutschlands Außenpolitik hat sich sukzessive nach der Wiedervereinigung 1990 und dem damit gestiegenen politischen Gewicht verändert. Was bis heute fehlt ist nicht eine Revision der Außenpolitik, sondern dass wir uns über diese Veränderungen klar werden und vor allem über diese Veränderungen gegenseitig verständigen. Schwierige Diskussionen wurden vermieden, aber die außenpolitischen Entscheidungen passten sich dennoch der weltpolitisch veränderten Lage an.

Der geringe Stellenwert der Außenpolitik in Deutschland zeigt sich auch darin, dass der Anteil am Bundeshaushalt, der seit 1990 für Auswärtiges, Entwicklungszusammenarbeit und Verteidigung aufgewendet wird, deutlich gesunken ist. Gleichzeitig hat vor allem das wirtschaftliche Gewicht die Bundesrepublik zu einer weltpolitischen Mittelmacht gemacht, deren Einfluss vor allem regional – in Europa und in den angrenzenden Regionen – deutlich spürbar ist. Die Euro-Krise ebenso wie die zentrale Stellung Deutschlands bei der Diplomatie mit Russland im Ukraine-Konflikt sind hierfür Beispiele. Doch die außenwirtschaftspolitische Bedeutung des Landes spiegelt sich (noch) nicht in den inländischen Diskussionen wider.

Deutschland fehlen ein außenpolitisches Selbstverständnis und ein Kompass, der die Rolle des wiedervereinten Deutschlands definiert. Weder hat Deutschland eine positive außenpolitische Tradition aus der Vorkriegszeit, an die man anknüpfen könnte und wollte noch hat das Land einen neuen Kurs nach der Wiedervereinigung diskutiert und definiert. „Orientierungslos“ ist daher aus unserer Sicht nicht nur die deutsche Öffentlichkeit, wie Winkler im obigen Zitat treffend bemerkt, sondern die deutsche Außenpolitik insgesamt.

Nie wieder Krieg – nie wieder Auschwitz

Dabei gibt es nicht nur pragmatische Gründe die „alte“ deutsche Außenpolitik zu überdenken und sich eigener Grundwerte, die außenpolitisches Handeln anleiten können, klar zu werden: Die Völkermorde in Ruanda, Srebrenica, im Sudan und in vielen anderen Ländern dieser Welt erinnern auch an die Gräueltaten und die Morde, die NS-Deutschland beging. Dabei geht es nicht um Gleichsetzungen oder Vergleiche. Aber das Motto „Nie wieder Krieg“ wurde im Laufe der 1990er Jahre zunehmend um den Zusatz  „nie wieder Auschwitz“, „nie wieder Völkermord“ ergänzt. Und das ist auch gut so.

Heinrich-August Winkler argumentiert in diesem Zusammenhang: „Ich glaube, es wäre ein falscher Schluss aus den Menschheitsverbrechen des Nationalsozialismus, wenn wir sagen würden: Deswegen haben wir ein Recht auf Wegsehen […]Dieses Recht haben wir nicht.

Rupert Neudeck: "Ich möchte nicht Menschen sterben lassen nur wegen der Reinheit meiner Philosophie oder meines Pazifismus." Quelle: Flickr.

Rupert Neudeck: „Ich möchte nicht Menschen sterben lassen nur wegen der Reinheit meiner Philosophie oder meines Pazifismus.“ Quelle: Flickr.

Nicht nur Deutschland, die internationale Gemeinschaft insgesamt, zog Lehren aus diesen Entwicklungen: 1998 wurde mit dem Römischen Statut ein permanenter Internationaler Strafgerichtshof  auf den Weg gebracht, der die individuell Verantwortlichen für Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Kriegsverbrechen und das Verbrechen der Aggression aburteilen kann. Seit der Jahrtausendwende wurde darüber hinaus das Prinzip der „Schutzverantwortung“, besser bekannt als „Responsibility to Protect“, etabliert und 2005 im Abschlussdokument des World Summit von allen Staaten der Vereinten Nationen akzeptiert. Wir kommen darauf zurück.

All diese Entwicklungen führen wohl auch dazu, dass Rupert Neudeck, Gründer von Cap Anamur und Vorsitzender des deutschen Friedenskorps Grünhelme, jüngst zu Protokoll gab: „Ich möchte nicht Menschen sterben lassen nur wegen der Reinheit meiner Philosophie oder meines Pazifismus.

Neue Leitlinien deutscher Außenpolitik – ein Debattenbeitrag

Wenn ein reiner Pazifismus unserer Verantwortung nicht gerecht wird, stellt sich die Frage nach den Leitlinien deutscher Außenpolitik. Worin besteht die normative Grundlage, vor deren Hintergrund wir konkrete Entscheidungen treffen sollten?

Auch wir haben auf diese Frage keine abschließende Antwort, wollen aber – im Rahmen der zugegeben bescheidenen Möglichkeiten unseres Bretterblogs – unsere Auffassung in die gesellschaftliche Diskussion einbringen:

Grundlegend plädieren wir dafür eine wertorientierte Außen- und Sicherheitspolitik zu betreiben, die an überaus positiven Erfahrungen der europäischen Einigung anknüpft. Frieden, Demokratie, Menschenrechte aber auch die ökonomische Integration sind der Kern des europäischen Friedensprojekts, von dem nicht nur, aber gerade auch Deutschland sehr profitiert hat. Es muss daher Kernbestand unserer Außenpolitik sein, den weiteren Erfolg des europäischen Projekts zu garantieren. Denn überzeugender als alle Appelle ist der Hinweis auf politische, gesellschaftliche, soziale und wirtschaftliche Realitäten.

Europa hat seinen Einigungsprozess freiwillig betrieben. Entsprechend wäre es ein Bruch mit dem eigenen Anspruch, die eigenen Werte anderen aufoktroyieren zu wollen. Werbung in eigener Sache, nicht Zwang ist notwendig. Dies schließt einen ernst gemeinten Dialog und Interesse an den Erfahrungen anderer ein. Denn Freiheit zeigt sich letztlich erst an der Freiheit der Andersdenkenden. Überdies ist es arrogant und ignorant zu meinen, Europa könne von anderen Weltregionen nichts lernen. Dem geistigen Weg des Kolonialismus sollten wir abschwören und bedenken, dass Freiheit, Menschenreche und Demokratie mit der Wertschätzung für Vielfalt und Pluralismus einhergeht. Verantwortungsvolle Außenpolitik ist daher weit davon entfernt Europa zu glorifizieren. Vergangenheit und Gegenwart Europas bleiben von Defiziten und Inkonsistenzen durchsetzt. Aber wir sind davon überzeugt, dass der europäische Kontinent insgesamt seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine positive Entwicklung genommen hat.

Gerade Deutschlands wirtschaftliche Verflechtung führt dazu, dass die Bundesrepublik in viele Regionen über besonders umfangreiche Kontakte und Dialogmöglichkeiten verfügt. Sie zu nutzen kann dem Kern europäischer Friedenspolitik dienlich sein.

Das bedeutet auch: Europäische und deutsche Außenpolitik sollte nicht dem Motto folgen „one size fits all“. Zuhören tut not: Nur wenn wir die Bedingungen, Perspektiven und Weltanschauungen der jeweils von der Außenpolitik Betroffenen ernstnehmen, werden wir dem europäischen Anspruch gerecht werden und angemessene Lösungen finden. Dies darf freilich nicht der Anwendung von Doppelstandards Tür und Tor öffnen. Vielmehr geht es darum sich stets zu fragen, in welchem Verhältnis die Probleme und Wünsche außerhalb Europas zu den eigenen Grundwerten stehen und was sich daraus für konkrete außenpolitische Handlungsoptionen ergeben.

Vielfalt kennzeichnet auch Europa: Die Europäische Union besteht aus 27 Staaten, mit unterschiedlichen Traditionen und politischen Kulturen. Die Tatsache, dass die EU 24 Amtssprachen hat, ist ein Ausdruck dieser Vielfalt. Dies bedeutet eine besondere Herausforderung für die europäische Außenpolitik, da sie die Einigung der verschiedenen Staaten in all ihrer Pluralität nicht nur von Interessen, sondern auch Werten verlangt.

Zentrale Verhandlungspartner in der Ukraine-Krise: Die Außenminister Deutschlands und Polens verhandelten mit dem damaligen ukrainischen Präsidenten Victor Yanukovich in Kiew. Quelle: Flickr.

Zentrale Verhandlungspartner in der Ukraine-Krise: Die Außenminister Deutschlands und Polens verhandelten mit dem damaligen ukrainischen Präsidenten Victor Yanukovich in Kiew. Quelle: Flickr.

Deutschlands Bedeutung in diesem Prozess der europäischen Außenpolitik hat in den letzten Jahren erheblich zugenommen. Dies geht einher mit gestiegener Verantwortung und Erwartung. Wir glauben daher wie fast die Hälfte der BundesbürgerInnen, dass Deutschland tatsächlich mehr internationale Verantwortung übernehmen muss. Dies sollte freilich im europäischen Rahmen geschehen.

Was aber kann Deutschland spezifisch in die europäische Außenpolitik einbringen? Geht es um bessere Waffen, mehr Soldaten und mehr Kampfeinsätze?

Vielleicht. Aber bevor wir über die Mittel sprechen, sollten wir uns über die Inhalte und Ziele deutscher und europäischer Außenpolitik klar werden. Neben der Selbstverteidigung steht dabei auch aufgrund der deutschen Geschichte aus unserer Sicht die Wahrung des Rechts auf Leben im Mittelpunkt. Maßnahmen zum Schutz der Zivilbevölkerung im Sinne der Schutzverantwortung erhalten daher eine besondere Bedeutung.

Dabei besagt das Prinzip der Schutzverantwortung, dass es Aufgabe der internationalen Staatengemeinschaft ist, alle Staaten in die Lage zu versetzen, das Leben ihrer Bürgerinnen und Bürger zu schützen. Ist ein Staat nicht willens oder in der Lage gravierende Verletzungen des Rechts auf Leben zu vermeiden (z.B. wenn ein Völkermord geschieht), so ist es die Verantwortung der internationalen Staatengemeinschaft die Zivilbevölkerung im Zweifel auch mit militärischen Mitteln zu schützen.

In Hinblick auf die Umsetzung der Schutzverantwortung ist ein häufiger Kritikpunkt, dass es mächtigen Staaten nicht um den Schutz der Zivilbevölkerung gehe, sondern darum, unliebsame Regime unter dem Vorwand des Zivilistenschutzes zu stürzen. Regime-Wandel ist ausdrücklich kein Teil der Schutzverantwortung, dafür muss sich Deutschland innerhalb der EU und weltweit verstärkt einsetzen.

Das mag selbstverständlich klingen. Doch gerade das Beispiel der Libyen-Intervention durch die NATO, an der sich Deutschland nicht beteiligte, zeigt das Gegenteil: Zwar sprach die NATO vom Schutz der Zivilisten. Doch de facto unterstützte sie die Rebellen bis zum Sturz von Diktator al-Gaddafi. Eine politische Vermittlungsmission der Afrikanischen Union unter Führung Südafrikas wurde von der NATO offensichtlich torpediert. Dabei war die treibende Kraft hinter diesem NATO-Einsatz Frankreich – also ein EU-Land – und nicht die häufig gescholtenen USA.

Mit dieser Aktion erwies die NATO der Schutzverantwortung einen Bärendienst: Die Skeptiker der Schutzverantwortung wurden in ihren Befürchtungen bestätigt. Tatsächlich zeigt sich seither eine deutlich klarere Ablehnung der Schutzverantwortung in jenen Staaten, die dieser völkerrechtlichen Norm bereits zuvor ablehnend oder ambivalent gegenüberstanden. Ein Beispiel dafür ist die Volksrepublik China, die sich bei der Abstimmung zum NATO-Einsatz in Libyen enthielt, seither der NATO – nicht zu Unrecht wie wir meinen – vorwirft, das vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen erteilte Mandat überschritten zu haben.

Im Sinne eines deutschen Engagements gegen Völkermord muss es uns daher darum gehen, das Prinzip der Schutzverantwortung erneut zu stärken. Erstens könnte Deutschland einen eigenen und wichtigen Beitrag leisten, indem es – auch in ganz praktischen technischen, taktischen und militärischen Fragen – den defensiven, schützenden Charakter der Schutzverantwortung herausstellt und für klare operative Grenzen wirbt. Regime-Wandel unter dem Deckmantel des Schutzes von Zivilisten muss erheblich erschwert werden – ganz auszuschließen wird er wohl kaum sein.
Zweitens gehört eine stärkere Betonung der oben erwähnten präventiven Pflichten der internationalen Gemeinschaft dazu. Drittens muss Deutschland daran erinnern, dass die intervenierenden Staaten auch die Pflicht zum Wiederaufbau haben. Die Verantwortung für Libyen endet daher nicht mit dem Bombardement und dem Sturz von al-Gaddafi. Vielmehr steht der Westen nun in der Pflicht Libyen in seinem weiteren Weg zu unterstützen, das Zerstörte wieder aufzubauen. Diese Verpflichtung zum Wiederaufbau verweist auch darauf, dass es nie eine rein militärische Lösung von Konflikten geben kann. Ein politischer Ansatz ist ebenso notwendig wie eine sich an den lokalen Verhältnissen orientierende langfristige Strategie. Fehlen solche Perspektiven, so drohen Katastrophen, wie wir sie derzeit im Irak erleben – denn ohne die US-Intervention 2003 wäre die Situation wohl heute eine andere.

Sowohl die Prävention von massiven Menschenrechtsverletzungen als auch die Verpflichtung zum Wiederaufbau nach abgeschlossenen militärischen Interventionen verweist auf die Zentralität nicht-militärischer Dimensionen deutscher und europäischer Außenpolitik. Dabei muss die Hilfe zur Selbsthilfe an erster Stelle stehen. Allerdings gibt es immer wieder Fälle, in denen akute humanitäre Hilfe notwendig ist.

Ein besonders drängendes aktuelles Beispiel für die Notwendigkeit präventiver Maßnahmen sind die Flüchtlinge aus Syrien und dem Irak: Allein aus Syrien waren bis Juli diesen Jahres mehr als 1,1 Millionen Menschen in den Libanon, fast 800.000 in die Türkei und mehr als 600.000 Menschen nach Jordanien geflohen. Die daraus resultierenden Herausforderungen für die genannten Länder sind immens: In Jordanien leben bereits mehrere hundert Tausend palästinensische Flüchtlinge, hinzu kommen bis heute Flüchtlinge aus den früheren Irak-Kriegen. Allein der derzeitige Flüchtlingsstrom aus Syrien entspricht gemessen an der jordanischen Bevölkerungszahl der Herausforderung, die Deutschland zu bewältigen hätte, wenn wir acht Millionen Flüchtlinge aufnehmen müssten.

Im Libanon ist die Lage noch gravierender: Das Land ist ohnehin politisch instabil. Zu den etwa viereinhalb Millionen Einwohnern sind nun mehr als 1,1 Millionen aus Syrien hinzugekommen, eine Herausforderung, die dem Kommen von knapp 20 Millionen Flüchtlingen nach Deutschland entsprechen würde.

Angesichts dieser Dimensionen kann die Bereitschaft zur Aufnahme von syrischen und irakischen Flüchtlingen in Deutschland nur als äußerst mager und mickrig bezeichnet werden. Hier wird die Bundesrepublik ihrer Verantwortung aus unserer Sicht nicht gerecht. Die Situation müsste uns beschämen und peinlich sein.

Denn: Verantwortung übernehmen heißt selbst Verantwortung zu tragen. Wir können nicht immer auf andere Staaten – allen voran die USA – verweisen. Das gilt für militärische wie zivile und humanitäre Aspekte der Außenpolitik. Die Lieferung von Waffen in ein Krisengebiet halten wir daher – unabhängig von der Frage, welche Optionen Deutschland gegenwärtig kurzfristig hat – für grundsätzlich verfehlt. Wir wissen nicht, was mit von Deutschland gelieferten Waffen gemacht wird: In Afghanistan wurden erst die Sowjets besiegt, dann errichteten die Taliban ein Terrorregime.
Deshalb gilt aus unserer Sicht: Gelangen wir zu der bitteren Erkenntnis, dass in einem spezifischen Fall Völkermord nicht allein mit zivilen, politischen und humanitären Mitteln verhindert werden kann, müssen wir auch über den Einsatz deutscher Soldaten sprechen. Waffen zu liefern, ausschließlich das Leben kurdischer Kämpfer zur Verhinderung eines Völkermordes zu riskieren und dann von großer deutscher Verantwortung zu sprechen, klingt bizarr in unseren Ohren.
Wir können nicht die Anderen – ob Kurden oder Amerikaner – die unpopuläre Arbeit für uns machen lassen.

Kämpfer der Peschmerga riskieren ihr Leben im Kampf gegen die Milizen des "IS". Quelle: Flickr.

Kämpfer der Peschmerga riskieren ihr Leben im Kampf gegen die Milizen des „IS“. Quelle: Flickr.

Freilich müssen vor dem Einsatz militärischer Mittel alle anderen Möglichkeiten ausgeschöpft worden sein. Getreu den Prinzipien der Schutzverantwortung gilt es zunächst politische Optionen auszuloten, zu vermitteln und die betroffenen Staaten zu unterstützen und in die Lage zu versetzen, die eigene Zivilbevölkerung zu schützen. Der völkerrechtlichen Legitimation von Waffengängen ist große Aufmerksamkeit zu schenken. Denn sie erfolgt nur durch eine entsprechende Resolution des Sicherheitsrates mit vorheriger öffentlicher Debatte im selbigen. Völkerrechtliche Legitimation geht daher stets mit der Notwendigkeit einher, die Weltgemeinschaft von einem Waffengang zu überzeugen und sich möglichen Gegenargumenten zu stellen. Ob alle nicht-militärischen Mittel wirklich ausgeschöpft wurden, steht in solchen Diskussionen zumeist im Mittelpunkt.

Europa und Deutschland sind keine Weltmacht. Es kann uns daher nicht darum gehen die Konflikte im Südchinesischen Meer zu befrieden. Das wäre eine Überschätzung und Überforderung. Aber in der europäischen Nachbarschaft haben EU und Deutschland ein erhebliches Gewicht als regionale Ordnungsmacht. Deshalb ist es gut, dass das Land beginnt über die Grundsätze deutscher Außenpolitik zu diskutieren. Wir hoffen, diese Debatte ist mit dem Beschluss der Waffenlieferungen nicht vorbei.

Aber was meint Ihr? Was haltet Ihr von unseren Vorschlägen?

* Elena Wolfinger studiert derzeit Politikwissenschaft und Soziologie an der Pariser Sorbonne. Tim Rühlig promoviert an der Uni Frankfurt und ist regelmäßiger Autor des Bretterblogs.

6 Kommentare

  1. […] Da dieser Beitrag Aufmerksamkeit verdient hat, crossposten wir hier die Einleitung. Den vollständigen Post kann man im Bretterblog lesen. In den nächsten Tagen werden wir auch eine Replik darauf […]

  2. […] Da dieser Beitrag Aufmerksamkeit verdient hat, crossposten wir hier die Einleitung. Den vollständigen Post kann man im Bretterblog lesen. In den nächsten Tagen werden wir auch eine Replik darauf […]

  3. Steffen Knoll · · Antworten

    Hm, als erstes wenn ich den Eintrag so lese frage ich mich, ob die VPR und das Weißbücher bekannt sind. Zugegeben, beides schon älter aber immer noch die aktuellen Grundlagen für die deutsche Sicherheitspolitik. Und wenn man die liest wundert man sich, woher die Ünerraschung über das deutsche Vorgehen und vor allem der shitstorm über Politiker kommt, die nur nacherzählen was dort steht.
    Allerdings sind beides keine Werke die man in der Schule liest oder auf die ich groß außerhalb der Laufbahnausbildung gestoßen wäre, zusammen mit ebenfalls nicht vorhandener Bildung in der Schule über Auslandseinsätze kann man so etwas wohl als novum sehen und sich fragen warum Deutschland seine Verteidigungsarmee so einsetzt.
    Waffenlieferungen in Krisengebiete sind auch nicht eine großartige Neuerung (auch wenn ich persönlich diese nicht für Zielführend halte), da soll es genug Beispiele für Lieferungen in andere unsichere Regionen geben.

    1. Hi, vielen Dank für den Kommentar, der uns die Gelegenheit gibt, ein offensichtliches Missverständnis zu klären und damit unseren Beitrag zu präzisieren: Wir sind weder überrascht über das deutsche Vorgehen noch wollen wir behaupten, dass es sich wirklich um eine „neue Politik“ handelt. Wir schreiben daher ja auch: „Es scheint uns daher nicht angemessen im Jahr 2014 von einem Tabubruch zu sprechen.“
      Wir glauben aber, dass in einer Demokratie ein öffentlicher, weite Teile der Gesellschaft einschließender Verständigungsprozess darüber stattfinden sollte, worin Grundwerte der eigenen Außenpolitik bestehen.
      Es geht uns daher um eine gesellschaftliche Diskussion, die durch Weißbücher etc. unseres Erachtens nicht ersetzt werden kann.
      Ein Schritt in die richtige Richtung stellt daher auch das Programm Review 2014 – Außenpolitik weiter denken des Auswärtigen Amtes dar (http://www.review2014.de/de/themen.html). Aber das kann nur ein Anfang sein…

  4. Hannes Krüger · · Antworten

    „Ein politischer Ansatz ist ebenso notwendig wie eine sich an den lokalen Verhältnissen orientierende langfristige Strategie.“
    Solche Sätze klingen so schön alternativ und geben vor, dass es Ideen für einen alternativen internationalen Umgang gibt. Leider sehe ich auch in diesem Artikel, so gut ich es finde, dass die Thematik aufgegriffen wird, keine Alternativen aufgezeigt.
    Es ist schwierig, diese zu entwickeln. Ich persönlich lehne die Waffenlieferungen, aus den im Text genannten Gründen, ab. Aber ich befürchte, dass Europa (und Deutschland als Teil davon) keine gemeinsame Idee von der idealen Welt hat. Ich möchte auch anzweifeln, dass Europa ein wirklich rein freiwilliges Projekt für alle Mitgliedsstaaten ist. Ich denke, dass einige neuere Staaten insbesondere aus wirtschaftlichen Gründen beigetreten sind und die politischen Ideale, so sie von der EU denn noch hochgehalten werden, einfach mit abgenickt haben. Als Ergebnis sieht man eine ungeeinigte EU in der Außenpolitik. Denn Politik ist von Wirtschaft nicht zu trennen.
    Die politischen Nachwirkungen des Kolonialismus werden nicht beseitigt werden könne, solange die wirtschaftlichen Ungerechtigkeiten fortwirken.

    Aber irgendwo muss man ja anfangen. Die RtP ist ein sinnvolles Konzept dafür. Zumindest hat man sich auf wenige Grundgültigkeiten oberflächlich einigen können. Wie wenig Gültigkeit dieser scheinbare Konsens hat, zeigt sich im akuellen Umgang in der internationalen Politiksphäre. Denn die RtP hat bisher die eigentlich Idee, eine dauerhaft im Hintergrund wirkende Schutzverantwortung den direkt bedrohten Menschen gegenüber, niemals Umsetzung gefunden. Es wird noch immer davon gesprochen, dass die „RtP angewnedet werden müsste“ oder ein bestimmter Konflikt ein „RtP- Fall“ sei. Dabei geht es gar nicht darum, dass man die RtP ausrufen muss, um sie zu aktivieren. Sie sollte stillschweigend immer gelten. Jede außenpolitische Handlung sollte entsprechend der Grundsätze (selbstgewählt!) überprüft werden.

    Aber der Mensch ist weiterhin ein feiges Biest, getrieben von Angst. Wo bleibt die Diskussion (und die Umsetzung) einer Friedenszone in Syrien? Warum schicken wir Handfeuerwaffen und Schutzwesten zu den Kurden und trainieren sie nicht bzw. kämpfen selbst an deren Seite, wenn wir keine andere Lösung wissen, als die IS zu beschießen? Wo bleiben die Ideen, um die Perspektivlosigkeit in Syrien, Israel, Palästina, Ägypten,… zu beenden und den Leuten vor Ort die Möglichkeit einer eigenen freien Entfaltung zu geben?

    Ich persönlich sehe wenig Hoffnung, die derzeit aktive politische und wirtschaftliche Elite davon zu überzeugen, dass die Welt auch für sie eine bessere wäre, wenn sie den bedürftigen Mitmenschen sozial helfen würden.

    1. Lieber Hannes,
      hab vielen Dank für Deinen ausführlichen und spannenden Kommentar.
      Interessanterweise liegen wir in einigen Punkten gar nicht weit auseinander. Fangen wir mit dem letzten Aspekt an: Waffenlieferungen – nein. Raushalten – nein. Auch wir sind dafür, dass Europa keine Waffen einfach an die Kurden liefert, sondern aus den Prinzipien, die hier dargelegt werden, kann aus unserer Sicht für diese Situation nur eine Schlussfolgerung gezogen werden: Wir brauchen ein multinationale Bodentruppe im Irak – natürlich auch unter Beteiligung der Bundeswehr.
      Das ist dann aber doch eine deutliche Alternative zur gegenwärtigen Politik.
      Entscheidend ist aus unserer Sicht: Wann ein solcher Schritt gegangen wird und wann nicht, wie genau multinationale Einsätze zum Schutz von Zivilisten ausgestaltet werden (z.B. die Vermeidung von Regime-Change wie im Falle Libyens geschehen) muss klar definiert werden. Hier wünschen wir uns einen aktiven Beitrag zur Grundsatzdiskussion durch Deutschland und durch Europa. Dazu gehört dann in den jeweiligen Einzelfällen auch stets eine Einbettung in eine langfristige politische Strategie (denn eine rein militärische LÖSUNG wird es nie geben). Diese können wir – da hast Du vollkommen recht – für den Irak nicht aufzeigen. Tatsächlich haben wir dazu einfach auch zu wenig Regionalexpertise.
      Wir hatten aber überlegt, ob wir einen Absatz einfügen, der durchspielt, was unsere Forderungen für den Irak bedeuten, haben uns dann aber aufgrund der Länge des Beitrags dagegen entschieden. Schön, dass dieses Thema jetzt in der Diskussion aufkommt!
      Deshalb konzentrieren wir uns eher an den Grundsätzen, denen Europa und Deutschland unseres Erachtens folgen sollte. Hier spielt die R2P die zentrale und überragende Rolle. Wir glauben wie Du, dass die Schutzverantwortung nie zur vollen Entfaltung gekommen ist. Aber wenn wir auf den Fall Libyen schauen, dann muss man ehrlich eingestehen: Das war keine Werbung für die R2P. Daraus wollen wir lernen und treten deshalb dafür ein, klarere Kriterien der defensiven Auslegung der R2P zu entwickeln. Hier hoffen wir auf einen starken europäischen Beitrag.
      Die größte Differenz haben wir wohl bei Europa. Hier sind wir nicht so pessimistisch wie Du. Vor allem glauben wir, dass die Uneinheitlichkeit der Außenpolitik kein Zeichen für den Mangel an einem normativen europäischen Kern ist. Denn das europäische Projekt war zunächst in erster Linie ein „Binnenprojekt“: Frieden in Europa, Binnenmarkt, Wirtschaftskooperation, Währungsunion etc. Wir sehen es daher nicht als Krise Europas an, dass es keine einheitliche Außenpolitik hat – es ist eigentlich normal.

      Hab vielen Dank für Deinen Kommentar!

      The debate must go on.

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