Freunde, lasst uns diskutieren! Eine Replik auf Stefan Engert

Letzte Woche argumentierte Stefan Engert in seinem Gastbeitrag für das Bretterblog, Deutsche dürften Israel nicht kritisieren. Das glaube ich nicht. Denn die Lehren aus dem Holocaust können nicht in der Zementierung von Täter- und Opferrolle liegen. Gemeinsame Verantwortung für ein mitmenschliches Umgehen – das ist die Antwort.

Israels Fahne am Strand von Rishon LeZion. Quelle: Flickr.

Israels Fahne am Strand von Rishon LeZion. Quelle: Flickr.

Als Martin Schulz, EU-Parlamentspräsident, kürzlich vor dem israelischen Parlament, der Knesset, eine Rede hielt, machte er einen entscheidenden Fehler: Er verwendete ungeprüfte Zahlen zum Wasserverbrauch von Israelis und Palästinensern, um zu verdeutlichen, dass die Palästinenser diskriminiert werden. Schnell schallten Schmährufe von den Rängen des Parlaments, die Schulz unter Anderem der Lüge bezichtigten. Und kaum war die Rede beendet, so wurde auch die Tatsache, dass Schulz Deutscher ist und auf Deutsch sprach, zum Gegenstand der Diskussion.

EU-Parlamentspräsident Schulz und Israels Präsident Peres. Quelle: Flickr.

EU-Parlamentspräsident Schulz und Israels Präsident Peres. Quelle: Flickr.

Stefan Engert hat dies in seinem Beitrag letzte Woche dargestellt, versucht, das Empfinden der Israelis zu verstehen, für Verständnis geworben und daraus geschlossen, Deutsche dürften Israel nicht kritisieren. Dabei verwies er auf das Morden des Holocaust und das Leid, das Deutschland und die Deutschen dem jüdischen Volk während der NS-Zeit zufügten. Auch meinte er, Israels Handeln im Konflikt mit den Palästinensern heute stehe in einem unmittelbaren Zusammenhang mit dem Holocaust, weil die Juden gelernt hätten, nie wieder Opfer sein zu dürfen.
Ich habe selbst in Israel gelebt und weiß, dass es sehr belastend ist, permanent im Unterbewusstsein auf die eigene Sicherheit bedacht sein zu müssen. Und Stefan hat aus meiner Sicht völlig Recht, wenn er meint, das israelische Verhalten sei angesichts der derzeitigen Sicherheitslage, dem Wunsch vieler Nachbarn zur Vernichtung Israels und der Erfahrung des Holocausts nachvollziehbar. Ja, nachvollziehbar ist es wirklich.
Selbstverständlich zutreffend scheint mir auch, wenn Stefan darauf verweist, dass das Verhältnis zwischen Israel und Deutschland ein besonderes ist, eines, das von Deutschland und Deutschen besondere Sensibilität verlangt. Auch stimme ich Stefan zu, dass es vielen Holocaustüberlebenden schwer fällt, die deutsche Sprache zu hören.
Aber welche Schlüsse sind daraus zu ziehen? Heißt, dass wir ein Verhalten nachvollziehen können auch, dass wir es gutheißen müssen oder zumindest dass wir es unter keinen Umständen kritisieren dürfen? Ich meine: nein!

Ein Freund Israels muss versuchen dem Frieden zu dienen

Das hat mehrere Gründe. Zunächst glaube ich, dass ein wahrer Freund Israels versuchen muss, den Friedensprozess zu fördern. Israels Existenz hat Angela Merkel völlig mit Recht zur deutschen Staatsräson erklärt. Das bedeutet, dass wir uns über das Ziel einig sind: Wir alle, Israelis wie Deutsche, wünschen uns ein Israel, das in Frieden und Sicherheit existieren kann. Über den Weg um dieses zu erreichen, besteht deshalb noch keine Einigkeit. Über den Weg darf, nein muss, daher diskutiert werden, einschließlich Kritik. Wenn jemand meint, eine gute Idee zu haben, wie Israelis und Palästinenser in Frieden und Sicherheit miteinander oder nebeneinander leben können, so ist allen Seiten gedient, wenn dieser Vorschlag eingebracht wird. Ein wahrer Freund Israels dient daher nicht der jeweils regierenden politischen Elite des Landes, sondern versucht ernsthaft zur Lösung des Nahostkonflikts beizutragen. Dazu kann, dazu muss immer wieder auch Kritik gehören.

David Grossman, Schriftsteller, verlor seinen Sohn im Libanonkrieg und schrieb daran anschließend ein bewegendes Buch. Quelle: Flickr.

David Grossman, Schriftsteller, verlor seinen Sohn im Libanonkrieg und schrieb daran anschließend ein bewegendes Buch. Quelle: Flickr.

Auch sollten wir nicht vergessen, dass linke politische Kräfte und die Friedensbewegung in Israel zwar deutlich geschwächt und in der Minderheit sind. Dennoch können europäische, auch deutsche Interventionen dazu beitragen, dass sie wieder stärker Gehör finden. Kritik an der Politik der israelischen Regierung ist daher nicht per se eine Kritik an Israel, geschweige denn „anti-israelisch“. Sie stützt lediglich nicht die Regierungspolitik, sondern die Meinungen anderer Persönlichkeiten Israels, darunter die weithin anerkannten Schriftsteller David Grossman (der seinen Sohn im Libanonkrieg verlor und daran anschließend das bewegende Buch „Aus der Zeit fallen“ geschrieben hat) und Amos Oz, Organisationen wie „peace now“ (Shalom Achshav) oder den früheren Botschafter in Deutschland,  Avi Primor. Warum sollte es also verboten sein, Avi Primor zuzustimmen und Benjamin Netanjahu zu kritisieren?!
Eine nicht immer einfache Frage ist, ob bei antiisraelischer Kritik auch Antisemitismus mitschwingt. Diese Gefahr sollte uns wachsam bleiben lassen, darf aber nicht zu einem generellen Kritikverbot führen.
Stefan weist aber noch auf einen anderen möglichen Zusammenhang hin wenn er fragt: „Haben die negativen Erfahrungen von damals [dem Holocaust der NS-Zeit] irgendetwas damit zu tun, wie die Israelis heute die Palästinenser behandeln? Vermutlich schon. Aufgrund der vergangenen Erfahrungen mit dem Dritten Reich und den aktuelleren Konflikten mit ihren arabischen Nachbarn, nehmen sie Sicherheitsbedrohungen subjektiv schneller und bedrohlicher war.“

Dan Bar-On im Rahmen einer Veranstaltung der Margit-Horváth-Stiftung in Wiesbaden im Juni 2006. Quelle: Margit-Horvath-Stiftung.

Dan Bar-On im Rahmen einer Veranstaltung der Margit-Horváth-Stiftung in Wiesbaden im Juni 2006. Quelle: Margit-Horvath-Stiftung.

Auch diese Frage wird in den letzten Jahren in Israel  vermehrt und kontrovers diskutiert. So hat der (leider mittlerweile verstorbene) israelische Psychologe Dan Bar-On Storytelling-Projekte initiiert, in denen sich sowohl Kinder von Nazi-Tätern und Kinder von Holocaust-Opfern ihre Lebensgeschichte erzählen als auch ähnliche Projekte zwischen israelischen und palästinensischen Jugendlichen durchgeführt. Zudem veröffentlichte der ehemalige Parlamentspräsident Avraham Burg ein kontroverses Buch mit dem Titel „Hitler besiegen“, in dem er argumentiert, Israel sei von den Erfahrungen der Shoah geprägt, müsse sich jedoch davon zumindest ein Stück weit befreien – auch und gerade um seiner zukünftige Sicherheit Willen, für die auch ein veränderter Umgang mit den Palästinensern und anderen Nachbarvölkern nötig sei. Und in gewisser Weise daran anschließend schreibt auch der Historiker Shlomo Sand in einem israelischen Bestseller, Israel müsse seine jüdische durch eine israelische Identität wechseln.
Man mag zu all diesen Büchern stehen, wie man will. Sicherlich sind sie nicht ohne Grund umstritten und auch ich will sie hier nicht verteidigen. Zentral scheint mir aber: Auch in Israel wird über den Zusammenhang zwischen Shoah und der aktuellen politischen Situation diskutiert. Umso mehr man aber einen Zusammenhang zwischen beidem sieht, desto größer wird die deutsche Verantwortung, sich heute konstruktiv einzubringen. Und konstruktiv kann aus meiner Sicht in diesem Zusammenhang nur heißen, die Frage zu stellen: Wie schaffen wir Frieden, Sicherheit und ein Leben in Menschenwürde für Israelis und Palästinenser? Ich meine: Wir müssen darüber solidarisch miteinander diskutieren!

Was lernen aus dem Holocaust? Was lernen aus der NS-Geschichte?

Viel grundlegender stellt sich aber die Frage, was wir aus dem Holocaust lernen sollten. Stefan beschäftigt sich mit dieser Frage nicht explizit. Er beschränkt sich darauf, für Sensibilität und Verständnis für die Opfer zu werben.
Dieses Ansinnen finde ich – selbstredend – sehr gut. Einem Holocaustüberlebenden als Deutscher Vorhaltungen zu machen, ist schwer erträglich. Natürlich sollten deutsche Politiker_innen ihre Worte sorgsamer wägen. Überlebende der Shoah zu verletzen, ist das letzte, was man wollen kann.
Ich stimme mit Stefan auch überein, wenn er die Position kritisiert, gerade Juden müssten es angesichts der Geschichte doch besser wissen und dürften die Palästinenser nicht verfolgen. Diesem Zusammenhang zitiert Stefan sehr treffend wie ich finde Charles Lewinskys Buch „Ein ganz gewöhnlicher Jude“, der darin argumentiert, das Verquere an dieser Ansicht von deutscher Seite wäre ausgerechnet, dass „[d]er Täter dem Opfer übel [nimmt], das es aus seiner Tat nichts gelernt hat“ (S. 92). Eine solche Argumentation ist tatsächlich unerträglich, denn sie läuft daraus hinaus zu sagen, dass Juden aufgrund der Verfolgungen bessere Menschen geworden sein müssten. Das ist natürlich blanker Unsinn.
Die Frage ist aber umgekehrt, ob die sonst von uns vertretenen Menschenrechtsstandards über Bord geworfen werden sollten, sobald es um israelische Regierungspolitik geht? (Ich betone hier erneut Regierungspolitik und nicht generell Israel.) Ich glaube, aus all dem Gesagten sollte kein generelles Verbot zur Kritik an der israelischen Regierungspolitik folgen!
Denn aus dem Holocaust lernen heißt, nicht mehr wegzuschauen, nicht mehr zu schweigen, Zivilcourage zu zeigen und für Frieden und Menschenrechte einzutreten. Alle Menschen sind gleich in ihrer Würde, unabhängig von ihrer Herkunft und ihrer Religion. Das muss die oberste Maxime sein, der sich alle Seiten, Deutsche, Israelis, Palästinenser und alle anderen Völker verpflichtet fühlen sollten. Das bedeutet, dass Deutsche keinen Zweifel an der Existenzberechtigung Israels lassen dürfen. Drohungen gegen Israel sind genauso inakzeptabel wie jeder Terroranschlag gegen Israelis ein schreckliches Verbrechen darstellt.

Schovrim Schtika, "Breaking the Silence", ist eine bewundernswerte NGO.

Schovrim Schtika, „Breaking the Silence“, ist eine bewundernswerte NGO.

Doch werden  Menschenrechte von der israelischen Armee missachtet, so ist dies nicht weniger gravierend, nicht wenig schlimm. Dass dies in großem Umfang geschieht, legen die Arbeiten der israelischen NGO „Breaking the Silence“ nahe, von der wir an anderer Stelle in diesem Blog bereits berichtet haben. Bei „Breaking the Silence“ arbeiten ehemalige Angehörige der israelischen Armee, berichten von den Einsätzen mit ihren Schrecken und den Menschenrechtsverletzungen, die damit einhergehen. (Auf einer fiktionalen Ebene hat auch der Film „Bethlehem“ die Frage in eindringlicher Weise erneut aufgeworfen, welchen ethischen Standards israelische Sicherheitsinstitutionen folgen.)
Stefan würde an dieser Stelle vermutlich argumentieren, dass diese Menschenrechtsverletzungen nicht in Ordnung sind, diese aber nicht von Deutschen verurteilt werden sollten. Ich bin anderer Meinung und zwar aus drei Gründen heraus:
Erstens sollte uns gerade das Wegschauen, das stillschweigende Einverständnis oder Ignorieren der deutschen Bevölkerung  gegenüber der Shoah lehren, dass es in der Verantwortung aller Menschen liegt, die Menschenrechte zu achten, zu schützen und zu verteidigen. Niemand kann sich aus dieser Verantwortung stehlen – auch nicht mit Rückgriff auf die Geschichte.
Zweitens ist die Geschichte, auf die sich Stefan beruft, wie er selbst einräumt, in den meisten Fällen nicht mehr die individuell eigene Geschichte der heute Handelnden. Bei Günther Grass mag der Fall anders liegen. Sein „Gedicht“ wurde im Bretterblog bereits debattiert. Aber Martin Schulz trägt keine persönliche Schuld. Ich gehöre dabei nicht zu jenen, die meinen, es gäbe so etwas wie eine kollektive besondere Verantwortung nicht. So wie die Nachfahren der Opfer des Holocaust vom Grauen der Shoah geprägt bleiben, gilt dies auch für die Nachfahren der Täter. Dennoch gibt es einen gravierenden Unterschied zwischen einer kollektiven Verantwortung und einer persönlichen Schuld. Das gilt auch für die Opferseite: So kann ich nachvollziehen, wenn man argumentiert, Deutsche sollten keine Überlebenden der Shoah kritisieren. Aber warum diese „Immunität“ vor jeglicher Kritik auf die Kinder und ihre Enkel übertragen?! Sensibilität ist geboten – ja. Aber das darf nicht jegliche Kritik verunmöglichen!
Drittens und damit verbunden, läuft Stefans Argumentation auf eine Zementierung von Opfer- und Täterrollen hinaus. Wann, so muss man fragen, sollte es Deutschen jemals nach Stefans Meinung gestattet sein, israelische Regierungspolitik zu kritisieren? Martin Schulz trägt genauso wenig persönliche Schuld wie seine Kinder und Enkel. Warum also sollte seinen Enkeln erlaubt sein, was ihm verwehrt wird?! Diese Verstetigung von Opfer- und Täterrollen könnten aber, so befürchte ich, gravierende Folgen haben:

Bekämpft den Antisemitismus – lasst Kritik an israelischer Regierungspolitik zu!

Die größte Sorge, die ich in diesem Zusammenhang habe, ist, dass eine Zementierung von Ungleichheit Vorurteile festigen würde. Ich glaube daher, dass wenn man jegliche Kritik an israelischer Politik unterbindet, diese „institutionalisierte Ungleichheit“ Antisemitismus hervorbringen wird. Das ist nicht Stefans Ziel. Das ist mir völlig klar. Er ist ein wahrer Freund Israels, will Antisemitismus bekämpfen und Sicherheit und Frieden garantiert sehen. Er hat noble Absichten. Daran habe ich überhaupt keinen Zweifel. Aber ich fürchte, dieser Schuss könnte nach hinten losgehen.
Kurzum: Ich glaube, Stefan hat Recht, dass die besondere Dünnhäutigkeit vieler Israelis gegenüber Kritik aus Deutschland nachvollziehbar ist. Nicht nur Hitler, das ganze deutsche Volk trägt Verantwortung für die Shoah. Deshalb ist Sensibilität und Feingefühl bei Kritik gefragt.
Aber das bedeutet nicht, dass keine Kritik mehr erlaubt sein darf. Unser Ziel darf nicht die Verstetigung von Täter- und Opferrollen sein, sondern muss eine Normalisierung sein. Von einer Normalität sind wir weit entfernt. Aber sie muss unser Ziel bleiben. Und dabei sollten wir nicht zu pessimistisch sein: Fragt man die israelische Jugend nach Europa, so wollen unglaublich viele nach Berlin. Berlin in seiner Kreativität und Vielfalt fasziniert. Zwar bleibt Deutschland auch hier etwas „Besonders“, ich glaube auch nicht völlig geschichtsloses „Anderes“. Aber Deutschland ist in den Augen der jungen Generation längst nicht mehr nur NS-Zeit. Nicht zuletzt im Zusammenhang mit den aktuellen Regierungskonsultationen und den Arbeitserlaubnissen für Israelis in Deutschland hat dieser Aspekt – erfreulicherweise – gerade in den letzten Tagen eine enorme Aufmerksamkeit erhalten. Diesem Prozess der Neuentdeckung, der teilweisen Normalisierung sollten wir mit absoluten Denk- und Redeverboten nicht im Wege stehen!

Romani Rose, Zentralratsvorsitzender der Deutschen Sinti und Roma.

Romani Rose, Zentralratsvorsitzender der Deutschen Sinti und Roma.

Unser Ziel muss es sein, gemeinsam für die Würde der Menschen und für die Einhaltung der Menschenrechte einzutreten. Das hat auf diesem Blog vor einigen Monaten in beeindruckender Weise auch Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, in einem Interview getan. Sinti und Roma waren in vergleichbarer Weise Opfer des Holocaust. Rose sagte: „Ich denke, es ist daher wichtig, dass den heutigen Generationen, den Enkeln und Urenkeln, bewusst gemacht wird, dass es nicht darum geht, sich hervorgehoben für Juden und Sinti und Roma zu engagieren. Wir müssen uns gemeinsam für die Demokratie und den Rechtsstaat engagieren.“ Wie Recht er doch hat.

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ein Kommentar

  1. Claus Strothmann · · Antworten

    Nur zur Ergänzung: Die Gründungsgeneration um Ben Gurion (Arbeiterpartei) dachte an ein sozialistisch inspiriertes Israel (Kibuzzim) für Juden UND Palästinenser als Wahlbürger.

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